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Barock-Inquisition: Anthony Roth Costanzo

Von , 08 Oktober 2015

Der Oktober steht bei Bachtrack ganz im Zeichen des Barock. In den letzten Jahren haben wir den unaufhaltsamen Aufstieg von Countertenören beobachtet – sie sind überall! Jetzt ist es an der Zeit, von den führenden Countertenören unserer Zeit etwas mehr über ihr Fach herauszufinden.

Countertenor Anthony Roth Costanzo begann seine Gesangskarriere mit 11 und ist seitdem in Opern, Konzerten, Recitals, Filmen und am Broadway aufgetreten. In dieser Spielzeit sieht man ihn mit der English National Opera in der Titelrolle von Philip Glass' Echnaton sowie in zwei Weltpremieren: Jake Heggies Great Scott an der Lyric Opera of Chicago und der San Diego Opera, und Jimmy Lopez' Bel Canto an der Lyric Opera of Chicago. Zudem gibt er sein Debüt beim Ojai Festival in der amerikanischen Premiere von Kaija Sariaahos Only the Sound Remains.

Wie erklären Sie sich die explosionsartig gestiegene Beliebtheit von Countertenören?

Im Vergleich zu vor 30 Jahren ist Barockoper nun relativ häufig und selbst in größeren Häusern auf der ganzen Welt keine Kuriosität mehr. Infolgedessen gibt es auch mehr Gelegenheiten für Countertenöre, aufzutreten. Zusätzlich zu den musikalischen Vorzügen der barocken Oper findet ihre Handlung überwiegend in Rezitativen statt; die Arien sind meistens ein knappes Ausdrücken von Gedanken oder Emotionen. Das kann Regisseuren viel Freiraum geben, um die substantiellen Teile der Oper in eine Traumlandschaft zu verwandeln oder ihnen einen neuen Handlungsort zu geben, was sie zu einem leichter formbaren Medium zur Interpretation macht als sagen wir eine Verismo-Oper. In aller Kürze, Barockoper und die erforderlichen Countertenöre passen gut zu den theatralisch kreativen Ansätzen, die heute von vielen Opernkompanien geschätzt werden.

Obwohl Countertenöre heutzutage überall singen, glaube ich, dass der Grund, aus dem wir die Hörer immer noch faszinieren, die uns anhaftende Neuheit ist. Es gibt kaum einen Raum, einen Saal oder ein Theater in dem ich singe, wo, wenn ich danach frage, nicht ein großer Teil des Publikums noch nie zuvor einen Countertenor gehört hat. Natürlich kennen Liebhaber dieses Stimmfach gut, aber ein Großteil der meisten Hörer ist fühlbar geschockt, wenn wir unseren Mund zum ersten Mal aufmachen. Und das ist GUT. Jemandem, für den Oper noch Neuland ist, gibt das Halt, etwas, das sie fasziniert, wenn sie diese Kunstform kennen-, verstehen und hoffen lieben lernen. Doch ich glaube selbst für jemanden, der schon Erfahrungen mit Countertenören hat, gibt es noch immer eine Art Faszination bei dieser kognitiven Dissonanz dieser Stimmen mit den dazugehörigen Körpern.

Welche Opernrolle mögen Sie am liebsten, und warum?

Meine Lieblingsrolle scheint sich gerade von einer Minute zur nächsten zu ändern, vor allem, weil ich in jeder Spielzeit neue Rollen spiele. Davon abgesehen aber steht Glucks Orfeo stimmlich, emotional und musikalisch ganz oben auf der liste. Die Einfachheit der Geschichte, die schmerzhafte Reise, die er unternehmen muss, er ist zugleich stark und verletzlich, das fühlt sich für mich eine perfekte Verbindung für Gesang an. Außerdem gibt seine Musik reichlich Gelegenheit für üppige Weite, man segelt über einem vollen Chor oder Orchester, doch sie besitzt auch ergreifende Augenblicke stiller Einkehr, Trauer und sogar Entschlossenheit. Sie ist voller aufregender Momente für einen singenden Schauspieler, und die schiere Schönheit der Musik ist natürlich frappierend.

Wann haben Sie Ihre Countertenor-Stimme entdeckt?

Ich war mit 11 als Knabenröhre am Broadway, bis ich 13 war, und ich wurde zum ersten Mal für eine Oper angefragt, als ich 13 war und sie einen Miles für Brittens Turn of the Screw brauchten. Das war meine erste Begegnung mit dem Genre Oper, und ich war sofort begeistert. Selbst in diesem Alter empfand ich das Ausdruckspotential als so tiefgreifend und vielseitig. Ich habe die hohen Passagen für Knabensopran alle in Kopfstimme gesungen, und jemand, der die Produktion gesehen hatte, erwähnte, ob ich wohl ein junger Countertenor wäre. Ich hatte keine Ahnung, was ein Countertenor war, aber ich habe es nachgeschlagen und es schien eine großartige Gelegenheit, weiterhin hoch zu singen, was in gewisser Weise jeder erfolgreiche Knabensopran tun will. Es stellte sich heraus, dass ich den Stimmbruch bereits hinter mir hatte, als ich Miles sang, es war einfach allmählich passiert. Darum habe ich mich nie als Bariton oder Tenor versucht, sondern habe eigentlich immer im Violinschlüssel gesungen. 

Wie gehen Sie an da capo-Verzierungen heran? Gibt es ein Gleichgewicht zwischen künstlerischem Feuerwerk und gutem Geschmack?

Guter Geschmack muss nicht langweilig sein! Ich arbeite sehr sorgfältig, und sehr langsam, an all meinen Verzierungen (oft erarbeite ich sie mit meinem Coach David Moody und verfeinere sie dann mit meiner Lehrerin Joan Patenaude-Yarnell). Im Durchschnitt brauche ich mindestens eine Stunde, bis ich die Ornamente für eine Arie habe. Und nicht aus Mangel an Ideen. Im Gegenteil, mir fallen so viele Möglichkeiten ein, dass es darum geht, den richtigen Weg zu finden. Natürlich will man Verzierungen, bei denen man seine Fähigkeiten zeigen kann, aber ich denke es ist viel wichtiger, dass sie auch den Charakter oder den Text auf neue, interessante Weise formen. Es ist essentiell, dass hinter jedem Ornament der dramatische Zweck steht. Wut kann verdoppelt werden, in dem man mehr Töne hinzufügt, doch gleichzeitig kann man Verzweiflung verstärken, indem man Töne weglässt, oder die Dynamik verändert. Ich sehe auch Farbveränderungen als Ornamente, nicht nur Veränderungen der Melodie. Wenn ich mich dann entschieden habe, was ich tun will, und es mit meinem Team besprochen habe, müssen meine Ideen es auch für einen Dirigenten bringen, von denen die meisten ihre eigenen Ideen und Pläne haben, um die Verzierungen einer Besetzung in der Herangehensweise einheitlich klingen zu lassen. Mach all diesen Machenschaften ist das wichtigste Teil beim Singen von Ornamenten, sie spontan KLINGEN zu lassen. Es darf sich für das Publikum nicht so anfühlen, als wäre man das schon tausend Mal durchgegangen. Ich glaube, es ist der Funken für dieses Feuerwerk, die Art, in der wir Musikalität nutzen können, um eine Verzierung so erscheinen zu lassen, als würde sie zum ersten Mal gesungen. So gebrauchen wir guten Geschmack in Verbindung mit musikalischen Instinkt, um (hoffentlich) eine Explosion von da capo-Variation zu zünden.

Was ist das Verrückteste, Merkwürdigste, das Sie je auf einer Opernbühne tun sollten?

Vor kurzem, in einer Inszenierung von Partenope an der San Francisco Opera, ließ Regisseur Christopher Alden mich von einer Kante hängen, an der ich mich nur mit den Fingerspitzen festhielt, während ich den A-Teil einer Arie sang. Später in der gleichen Oper musste ich in einer Arie Stepp tanzen – eine vollständige Vaudeville-Routine so richtig mit Stock und Zylinder. Die letzte Kadenz habe ich gesungen und getanzt: ich habe eine Figur gesungen und denn den gleichen Rhythmus gesteppt, und noch mal, bis wir einen Höhepunkt erreicht hatten. Wo das auf der Geschmacks-/Feuerwerkskala gelandet ist, weiß ich nicht, aber dem Publikum schien es sehr zu gefallen. Ich musste einmal einen Kunstesel mit zwei Menschen darin über eine schmale Planke über den Orchestergraben tragen, beim Singen einer Arie in einer Schüssel stehen, 15 Zentimeter hohe Plateauschuhe und Kleid tragen, Ausschneidemodelle meiner Untertanen aus Reispapier essen, ein Selfie aufnehmen – alles Mögliche. Und ich bin dabei. Für mich ist merkwürdig wunderbar, und es gibt oft einen Weg, es sowohl für den Interpreten ALS AUCH für das Publikum ansprechend zu machen.


 Hier geht es zu Anthony Roth Costanzos Künstlerseite.



Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.