[Update 13-Sep-2021: Apple hat angekündigt, dass das Unternehmen Primephonic kauft und beabsichtigt, die Funktionen von Primephonic in Apple Music zu integrieren.]
Vor dem Jahr 2000 schien es wie Sciencefiction: eine Bibliothek aller Musikaufnahmen weltweit, die man nach Vergnügen durchstöbern kann. Nach einigen von Rechtsstreiten geprägten Vorfällen und Anfängen wie Napster startete Spotify 2008 seinen Musik-Streamingdienst und ließ diesen Traum wahr werden. Nun hat Spotify Konkurrenz sowohl von den ganz Großen – Apple, Amazon und Google – als auch von zahlreichen unabhängigen Anbietern: Hörer haben wahrlich die Qual der Wahl, selbst nur für Audio, von den Videooptionen ganz zu schweigen.
Für Klassik- und Opernliebhaber gab es allerdings gleich zwei große Haken: Metadaten und Qualität. Klassische Musik passt nicht problemlos in das „Künstler / Album / Track“-Schema, das von den meisten Download- und Streaminganbietern verwendet wird, was die Suche nach einem Werk in der Interpretation eines bestimmten Künstlers schwer macht. Zudem ist klassische Musik – insbesondere Oper und große Chor- oder symphonische Werke – mit immensem dynamischem Spektrum angelegt, was bedeutet, dass stark komprimierte Tonspuren für anspruchsvolle Hörer einfach nicht gut genug klingen.
Um Ihnen den Weg durch das Labyrinth des Musikstreamings etwas zu erleichtern, habe ich mir sechs der verfügbaren Dienste genauer angesehen. Zwei davon, Idagio und Primephonic, wurden eigens für Klassikhörer geschaffen. Die anderen vier, Apple Music, Qobuz, Spotify und Tidal, decken alle Genres ab. Es zeigt sich, dass bei der Nutzung dieser Angebote viele verschiedene Aspekte zum Tragen kommen: Aussehen und Handhabung auf Smartphone und Desktop, wie man sucht, welche Tonqualität sie anbieten, die verschiedenen Arten, dem Hörer bei der Musikauswahl zu helfen, und zahlreiche Sonderfunktionen. Ich werde einige der verschiedenen Möglichkeiten betrachten, wie Klassik- und Opernliebhaber diese Dienste verwenden wollen könnten, und diese Ansprüche dann mit dem vergleichen, was von Seiten der Anbieter möglich ist.
Meine Testmethode war die, jedem Anbieter einige Aufgaben zu stellen und – nach etwas Übung – zu sehen, wie leicht sie zu bewältigen waren. Danach habe ich mir die Audioqualität vorgenommen. Die Vergleiche habe ich, anstelle von sechs umfassenden Bewertungen, nach Themen gegliedert. Hier sehen Sie einige Screenshots.
Plattformen
Alle sechs Produkte haben Smartphone-Apps, die es einem erlauben, Musik zur offline-Wiedergabe herunterzuladen. Alle* besitzen Webplayer zum Abspielen auf dem Desktop-PC. Apple, Idagio, Qobuz, Spotify und Tidal bieten eigene Apps für MacOS (im Falle von Apple ist das zudem der Audioplayer des Betriebssystems, der einem erlaubt, gerippte CDs miteinzuschließen, wenn man ihn korrekt einrichtet und etwas iCloud-Speicherplatz kauft).
Musikalische Bandbreite
Die erste Frage ist einfach: Möchten Sie ausschließlich klassische Musik hören, oder möchten Sie auch Zugang zu Pop, Jazz und anderen Genres? Wenn Sie auch andere Genres hören und nicht mehr als ein Abonnement abschließen möchten, müssen Sie Idagio und Primephonic von vornherein ausschließen.
Innerhalb der Klassikarena scheinen alle Anbieter die meisten Titel zu führen, die Sie sich anhören wollen werden, wobei es bei älteren Aufnahmen die ein oder andere Ausnahme gibt (eines meiner Testalben, der Sutherland/MacNeil-Rigoletto von 1961, war auf Primephonic nicht zu finden). Daher gab es zwischen den verschiedenen Diensten in dieser Hinsicht wenig Unterschiedliches.
Die Suche nach einer bestimmten Aufnahme
Wenn Sie eine bestimmte Aufnahme suchen und Sie wissen, wie das Albumcover aussieht, ist es bei allen sechs Diensten relativ einfach, die Aufnahme zu finden: Sie starten einfach eine Suche mit genügend Suchbegriffen. Meine Beispiele waren:
Der 1961er Rigoletto mit Joan Sutherland und Cornell MacNeil (eher unbekannte Aufnahme eines bekannten Werkes)
Boieldieus Harfenkonzert, gespielt von Nicanor Zabaleta (eher unbekanntes Werk)
Beethovens Fünftes Klavierkonzert („Emperor“), eingespielt 2019 von Martin Helmchen (aktuelle, preisgekrönte Aufnahme eines berühmten Werkes)
Die Suchbegriffe „rigoletto macneil”, “boieldieu zabaleta“ und „beethoven emperor helmchen“ funktionierten problemlos. Weiß man jedoch nicht, wie das Albumcover aussieht, kann es schon schwieriger sein, besonders auf dem Smartphone. Idagio, das (in kleinerer Schrift) beträchtlich mehr Information zu jedem Treffer bietet, bildet die Ausnahme.
Suchergebnisse für Rigoletto waren bei Apple variabel und manchmal gar nicht in den Treffern eingeschlossen, wenngleich der Tonträger eindeutig in der Datenbank vorhanden war.
Hat man die Aufnahme gefunden, ist die nächste Frage, wie viel Information man darüber angezeigt bekommt: Dies ist ein Gebiet, auf dem das Online-Streaming nicht mit dem CD- oder Schallplattenerlebnis in Gestalt eines ausführlicheren Booklets mithalten kann. Einige ausgewählte Labels haben begonnen, PDFs ihrer Albumbooklets zu Streamingdiensten hochzuladen: Die Helmchen-Aufnahme beispielsweise hat eine gute PDF-Datei, die von Idagio, Primephonic und Qobuz heruntergeladen werden kann, und alle drei bieten annehmbare Track-Verzeichnisse (bei Qobuz gibt es zudem eine eigene, kurze Rezension). Albumdetails bei den übrigen Diensten sind begrenzt.
Die Suche nach einem bestimmten Werk
Möchte man verschiedene Aufnahmen eines bestimmten Werkes vergleichen, stehen die Klassikspezialisten Idagio und Primephonic an erster Stelle. Das liegt daran, dass sie die standardisierten Metadaten von Künstler / Album / Track mit ihren eigenen Daten zu Komponisten und Werken erweitert haben, sodass man die Suchergebnisse auf Treffer zum gesuchten Werk einschränken und unnötiges Durcheinander auf eine Weise vermeiden kann, die bei den anderen Anbietern praktisch nicht möglich ist.
Alle sechs Plattformen haben das Problem, dass beliebte Aufnahmen aus der Vergangenheit von ihren Labels oft mehr als einmal veröffentlicht wurden, manchmal mit verschiedenen anderen Werken gebündelt, manchmal alleinstehend. Das führt dazu, dass Suchergebnisse oft Trefferduplikate beinhalten. Außerdem ist das angezeigte Datum gewöhnlich das Datum der Albumveröffentlichung, nicht der Aufführung (nach dem man ja eigentlich sucht). Eine Suche nach Georg Solti auf Apple Music beispielsweise ergibt Veröffentlichungen für jedes vorangegangene Jahr bis hin zu 2020, obwohl Solti bereits 1997 gestorben ist.
Die Benutzeroberfläche von Idagio und Primephonic sind sich sehr ähnlich, es gibt nur wenige Unterschiede und ich konnte auf beiden eine Vielzahl von Aufnahmen für beliebige Werke erfolgreich vergleichen. Ich persönlich fand Idagio aus mehreren Gründen etwas einfacher in der Handhabung. Zunächst war die Darstellung der Suchergebnisse klarer, bot mehr Text mit besserer Nennung aller Künstler auf einem Album. Das ist insbesondere bei Opernaufnahmen wichtig, bei denen man die Besetzung verschiedener Rollen erfahren möchte. Dann ist der Browser dort besser darin, einen beim Navigieren langer Ergebnislisten zu unterstützen, vor allem deshalb, weil keine Bilder eingefügt werden, was Zeit kostet und unnötig Platz einnimmt – und überhaupt kann ich ein Komponistenportrait nicht so einfach zwischen Dutzenden anderer erkennen. Drittens scheint Idagio ein wenig besser darin zu sein, Duplikate herauszufiltern.
Alle anderen Dienste zeigen einem eine Liste von Albumcovers mit begrenztem Text an, wobei der Text oft zu klein ist, um schnell und einfach zwischen den verschiedenen Aufnahmen zu unterscheiden. Tidal bot hier etwas bessere Lesbarkeit der Daten als die übrigen Anbieter. Wie zuvor war die Suche auf Apple unbefriedigend und zeigte nur eine Handvoll Treffer an, wenngleich eigentlich deutlich mehr Ergebnisse verfügbar waren.
Neuveröffentlichungen
Alle Plattformen haben einen Bereich für Neuerscheinungen. Ich konnte jedoch bei Apple, Spotify und Tidal keinen Weg finden, diese nach Genre zu filtern, was das Feature für Klassikhörer nutzlos macht. Da sie einzig auf Klassik ausgerichtet sind, haben Idagio und Primephonic dieses Problem nicht, wobei deren Listen kuratiert sind, sodass man verschiedene Alben präsentiert bekommt.
Die flexibelste und praktischste Sparte für Neuerscheinungen findet man bei Qobuz. Hier kann man nach Gattung (oder mehreren Gattungen, beispielsweise „Klassik und Jazz“) sowie zusätzlich zwischen „alle Neuerscheinungen“, „Qobuz Grand Selection“, „Trending“ oder „Presseauszeichnung“ filtern.
Musik entdecken
Alle sechs Streamingdienste bieten einem die Möglichkeit, eigene Playlisten zu erstellen und bearbeiten und diese dann zur Offline-Wiedergabe auf das Smartphone herunterzuladen. Sie bieten dem Benutzer zudem Musikempfehlungen, doch hier unterscheiden sich die Methoden und Brauchbarkeit enorm.
Spotify ist hier König der künstlichen Intelligenz: „Für dich erstellt“ generiert Hörempfehlungen basierend auf zuvor Gehörtem und „Lieblingssongs“. Das hat sich für mich als Problem herausgestellt, da ich meinen Spotify-Zugang für Bachtrackarbeiten (wie diesen Artikel) nutze und er auch mit unserer geteilten Sonos-Box verbunden ist. Mein Hörverlauf ist demnach also kein sicherer Anhaltspunkt dafür, was ich vielleicht als nächstes hören möchte. Spotify bezieht die meisten seiner Playlists via Crowdsourcing, anstatt sie selbst zu kuratieren, darum können die Vorschläge also auch schon mal danebenliegen. Apples Standard-Playlists sahen nicht besonders aufregend aus und die „Für dich erstellt“-Sparte von der Stange hat mich auch nicht besonders angesprochen (was aber auch daran liegen kann, dass es nicht auf eine detaillierte Liste meiner Hörgewohnheiten zurückgreifen kann). Es gibt dort tatsächlich eine gute Auswahl von Klassik-Playlists, doch die sind so tief in der Benutzeroberfläche versteckt, dass man sich sehr anstrengen muss, sie auszugraben. Tidals Auswahl an Klassik-Playlists war da viel einfacher zu finden. Zudem wird man bei der Anmeldung dazu aufgefordert, ein paar Lieblingskünstler anzugeben. Mit dieser Information wird ein Willkommensmix generiert, der recht gut zusammengestellt war – eine vernünftige Auswahl von bekannten Favoriten und Musik, die für mich tatsächlich neu war.
Bei Idagio, Primephonic und Qobuz verlässt man sich nicht auf künstliche Intelligenz, sondern steckt viel menschliche Arbeitskraft in die Erstellung von Playlists. Primephonics Playlists sind wahrscheinlich die stärkste Eigenschaft dieser Plattform: Sie bietet Dutzende Wiedergabelisten, basierend auf unterschiedlichen Themen wie verschiedene Länder oder Instrumente. Ich lasse mir nur zu gerne meine Violin-Playlist von Leonidas Kavakos kuratieren, meine Oboen-Playlist von Albrecht Mayer, Trompete von Tine Ting Helseth und so weiter. Idagio besitzt eine noch größere Auswahl von (generell kürzeren) Playlists, die unter Umständen zu üppig sind: Es gibt so viele davon, dass man auf zwei Ebenen navigieren muss, um in ihnen zu stöbern. Qobuz kann mit den Spezialisten nicht mithalten, wenn es um Quantität geht, bietet jedoch trotz allem eine gute Auswahl sowohl von selbst zusammengestellten Wiedergabelisten als auch solchen, die von bekannten Persönlichkeiten wie Barbara Hannigan, Steve Reich oder Naxos-Gründer Klaus Heymann kuratiert wurden. Es gibt dort auch sogenannte Panorama-Artikel – lange Artikel zu bestimmten Themen mit eingebetteten Playlists.