Die Opera Europa-Frühjahrskonferenz in Wien stand ganz im Zeichen des „Publikums”. Wie findet man ein neues Publikum? Ein jüngeres Publikum? Ein vielfältigeres Publikum? Wie kann man die Oper für das Publikum von heute „relevanter” machen? Als Bogdan Roščić auf die Frage von Karen Stone, wie die Wiener Staatsoper neues Publikum findet, entschlossen antwortete: „Ohne selbstgefällig zu klingen, aber diese Frage stellen wir uns eigentlich nie”, konnte ich das Stirnrunzeln der Teilnehmer fast hören. Als Wienerin muss ich gestehen, dass ich ein kleines, süffisantes Grinsen im Gesicht hatte. Trotz der vergleichsweise geringen Einwohnerzahl von zwei Millionen sind die drei großen Opernhäuser - Wiener Staatsoper, Volksoper, MusikTheater an der Wien – bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie das geht? Kurz gesagt, indem sie qualitativ hochwertige Inszenierungen auf die Bühne bringen, ihre unterschiedlichen Identitäten feiern und stolz darauf sind, die Kunstform der Oper zu repräsentieren.
1869 mit Don Giovanni eröffnet, ist die Wiener Staatsoper die älteste Oper der Stadt und mit 1.709 Sitzplätzen (und 435 Stehplätzen) das größte der drei Häuser. Um Ihnen eine Vorstellung von der Dimension des umfangreichsten Repertoirehauses der Welt zu geben, werden in der nächsten Saison 44 Inszenierungen aufgeführt, sechs davon neu, die meisten davon mit mehreren Aufführungsserien über die gesamte Spielzeit verteilt. Es ist eine gut geölte Maschine, die in der Lage ist, in einer beliebigen Woche drei oder vier Inszenierungen auf die Bühne zu bringen, aber sie hat auch ein offensichtliches Problem: den Mangel an Bühnen- und Probenzeit. Als Bogdan Roščić 2020 das Amt des Staatsoperndirektors übernahm, ging er dieses Problem an, indem er die Anzahl der Titel pro Jahr leicht reduzierte und das Kernrepertoire erneuerte und neu evaluierte.
Mit Roščić kam auch der dringend benötigte frische Wind ins Haus: mutigere Inszenierungen, interessante und manchmal unbekannte Regisseur*innen und aufregendere Stimmen, ohne dabei den eher konservativen Flügel des Publikums zu ignorieren. „Ich glaube nicht, dass man die Identität eines Hauses wie der Staatsoper kreieren oder verändern kann. Man kann sie finden, man kann das Publikum finden. Die Frage ist nur, wie man es nicht versaut.” In der laufenden Spielzeit 2023/24 hat die Wiener Staatsoper 99,94% ihrer Karten verkauft – im Dezember 2023 sogar 100%. In der Spielzeit 2022/23 lag die Auslastung bei schwindelerregenden 98%, mit einer Eigendeckungsrate von 43,5%.
Die Volksoper ist die „kleine Schwester” der Staatsoper und ebenfalls ein Bundestheater. Das Haus wurde 1898 als „Kaiserjubiläum-Stadttheater” eröffnet, 1904 in ein Opernhaus umgewandelt und in Volksoper umbenannt. Es ist – der Name verrät es schon – das Opernhaus für das Volk, wobei Intendantin Lotte de Beer „froh ist, dass die großen Werke anderswo aufgeführt werden”. Sie ist das führende Operettenhaus der Stadt und hat die Freiheit, neue Formen des Musiktheaters zu kreieren, indem sie beispielsweise Oper mit Ballett kombiniert (Iolanta und der Nussknacker) oder die Operette mit den Schrecken des Nationalsozialismus konfrontiert, wie in der ausverkauften Inszenierung von Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938. Die Mischung aus Musical, Oper, Ballett und Crossover-Konzerten führt dazu, dass 25% des Publikums unter 30 Jahre alt ist. In der Saison 2022/23 lag die Auslastung bei 78%, mit einer Eigendeckungsrate von 19,2%. In der laufenden Saison liegt die Auslastung bei 86,4%, im März 2024 sogar bei 94,8%.
Das MusikTheater an der Wien ist das jüngste der drei Ensembles, „wohnt” allerdings im ältesten Haus, dem Theater an der Wien, das 1801 von Emanuel Schikaneder (dem Impresario, der die Rolle des Papageno in der Zauberflöte schuf) erbaut wurde. Nach zweijährigen Renovierungsarbeiten, während derer das MTadW im Museumsquartier gastierte, wird es für die Spielzeit 2024/25 in sein Stammhaus an der Linken Wienzeile zurückkehren. Das MTadW ist kein Bundestheater, sondern gehört zu den Vereinigten Bühnen Wien und wird als Stagione Haus geführt, das mit verschiedenen Orchestern zusammenarbeitet, z.B. mit den Wiener Symphonikern, dem ORF Radio-Symphonieorchester, dem Klangforum Wien, dem Bach Consort Wien und dem Arnold Schoenberg Chor. Seit seiner Gründung im Jahr 2006 hat das MTadW stets ein besonderes und ungewöhnliches Repertoire – und das mit großer Leidenschaft. Stefan Herheim, seit der Saison 2022/23 künstlerischer Leiter, ist bereit, Risiken einzugehen, „auch wenn das bedeutet, dass wir scheitern”. Es gibt gewagte Inszenierungen, Opernraritäten oder, wie Kunigunde in der diesjährigen ausverkauften Inszenierung von Candide sagen würde, „Glitter and be Gay”. Einen Eindruck vom Erfindungsreichtum von MTadW vermittelt die – ebenfalls ausverkaufte! – Produktion Freitag, der Dreizehnte, in der Arnold Schönberg stilvoll gefeiert wird.