ENFRDEES
The classical music website

Opera Europa: die Wiener Sicht der Dinge

Von , 15 Mai 2024

Die Opera Europa-Frühjahrskonferenz in Wien stand ganz im Zeichen des „Publikums”. Wie findet man ein neues Publikum? Ein jüngeres Publikum? Ein vielfältigeres Publikum? Wie kann man die Oper für das Publikum von heute „relevanter” machen? Als Bogdan Roščić auf die Frage von Karen Stone, wie die Wiener Staatsoper neues Publikum findet, entschlossen antwortete: „Ohne selbstgefällig zu klingen, aber diese Frage stellen wir uns eigentlich nie”, konnte ich das Stirnrunzeln der Teilnehmer fast hören. Als Wienerin muss ich gestehen, dass ich ein kleines, süffisantes Grinsen im Gesicht hatte. Trotz der vergleichsweise geringen Einwohnerzahl von zwei Millionen sind die drei großen Opernhäuser - Wiener Staatsoper, Volksoper, MusikTheater an der Wien – bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie das geht? Kurz gesagt, indem sie qualitativ hochwertige Inszenierungen auf die Bühne bringen, ihre unterschiedlichen Identitäten feiern und stolz darauf sind, die Kunstform der Oper zu repräsentieren.

Stefan Herheim, Lotte de Beer und Bogdan Roščić
© Katharina Schiffl, David Payr | Volksoper Wien and Peter Mayr

1869 mit Don Giovanni eröffnet, ist die Wiener Staatsoper die älteste Oper der Stadt und mit 1.709 Sitzplätzen (und 435 Stehplätzen) das größte der drei Häuser. Um Ihnen eine Vorstellung von der Dimension des umfangreichsten Repertoirehauses der Welt zu geben, werden in der nächsten Saison 44 Inszenierungen aufgeführt, sechs davon neu, die meisten davon mit mehreren Aufführungsserien über die gesamte Spielzeit verteilt. Es ist eine gut geölte Maschine, die in der Lage ist, in einer beliebigen Woche drei oder vier Inszenierungen auf die Bühne zu bringen, aber sie hat auch ein offensichtliches Problem: den Mangel an Bühnen- und Probenzeit. Als Bogdan Roščić 2020 das Amt des Staatsoperndirektors übernahm, ging er dieses Problem an, indem er die Anzahl der Titel pro Jahr leicht reduzierte und das Kernrepertoire erneuerte und neu evaluierte. 

Wiener Staatsoper
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper

Mit Roščić kam auch der dringend benötigte frische Wind ins Haus: mutigere Inszenierungen, interessante und manchmal unbekannte Regisseur*innen und aufregendere Stimmen, ohne dabei den eher konservativen Flügel des Publikums zu ignorieren. „Ich glaube nicht, dass man die Identität eines Hauses wie der Staatsoper kreieren oder verändern kann. Man kann sie finden, man kann das Publikum finden. Die Frage ist nur, wie man es nicht versaut.” In der laufenden Spielzeit 2023/24 hat die Wiener Staatsoper 99,94% ihrer Karten verkauft – im Dezember 2023 sogar 100%. In der Spielzeit 2022/23 lag die Auslastung bei schwindelerregenden 98%, mit einer Eigendeckungsrate von 43,5%.

Volksoper Wien
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Die Volksoper ist die „kleine Schwester” der Staatsoper und ebenfalls ein Bundestheater. Das Haus wurde 1898 als „Kaiserjubiläum-Stadttheater” eröffnet, 1904 in ein Opernhaus umgewandelt und in Volksoper umbenannt. Es ist – der Name verrät es schon – das Opernhaus für das Volk, wobei Intendantin Lotte de Beer „froh ist, dass die großen Werke anderswo aufgeführt werden”. Sie ist das führende Operettenhaus der Stadt und hat die Freiheit, neue Formen des Musiktheaters zu kreieren, indem sie beispielsweise Oper mit Ballett kombiniert (Iolanta und der Nussknacker) oder die Operette mit den Schrecken des Nationalsozialismus konfrontiert, wie in der ausverkauften Inszenierung von Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938. Die Mischung aus Musical, Oper, Ballett und Crossover-Konzerten führt dazu, dass 25% des Publikums unter 30 Jahre alt ist.  In der Saison 2022/23 lag die Auslastung bei 78%, mit einer Eigendeckungsrate von 19,2%. In der laufenden Saison liegt die Auslastung bei 86,4%, im März 2024 sogar bei 94,8%.

Das MusikTheater an der Wien ist das jüngste der drei Ensembles, „wohnt” allerdings im ältesten Haus, dem Theater an der Wien, das 1801 von Emanuel Schikaneder (dem Impresario, der die Rolle des Papageno in der Zauberflöte schuf) erbaut wurde. Nach zweijährigen Renovierungsarbeiten, während derer das MTadW im Museumsquartier gastierte, wird es für die Spielzeit 2024/25 in sein Stammhaus an der Linken Wienzeile zurückkehren. Das MTadW ist kein Bundestheater, sondern gehört zu den Vereinigten Bühnen Wien und wird als Stagione Haus geführt, das mit verschiedenen Orchestern zusammenarbeitet, z.B. mit den Wiener Symphonikern, dem ORF Radio-Symphonieorchester, dem Klangforum Wien, dem Bach Consort Wien und dem Arnold Schoenberg Chor. Seit seiner Gründung im Jahr 2006 hat das MTadW stets ein besonderes und ungewöhnliches Repertoire – und das mit großer Leidenschaft. Stefan Herheim, seit der Saison 2022/23 künstlerischer Leiter, ist bereit, Risiken einzugehen, „auch wenn das bedeutet, dass wir scheitern”. Es gibt gewagte Inszenierungen, Opernraritäten oder, wie Kunigunde in der diesjährigen ausverkauften Inszenierung von Candide sagen würde, „Glitter and be Gay”. Einen Eindruck vom Erfindungsreichtum von MTadW vermittelt die – ebenfalls ausverkaufte! – Produktion Freitag, der Dreizehnte, in der Arnold Schönberg stilvoll gefeiert wird.

Es gibt gemeinsame Namen und Fäden zwischen den drei Häusern. Lydia Steier zum Beispiel hat in dieser Saison die funkelnde Candide am MTadW inszeniert und wird im Mai 2025 nach Wien zurückkehren, um einen neuen Tannhäuser an der Staatsoper zu inszenieren. Mit einigen Verschiebungen aufgrund von Covid sind die beiden neuen Normas in der Saison 2024-25 eine offensichtliche (und spannende) Überschneidung, eine an der Staatsoper (Regie: Cyril Teste, Federica Lombardi in der Titelrolle) und eine am MTadW (Regie: Vasily Barkhatov, Asmik Grigorian singt Norma). Beide werden im Februar 2025 ihre Premiere haben, aber, wie Roščić sagen würde, kann sich Wien dieses Aufeinandertreffen leisten. Und ist es nicht spannend, die beiden Häuser gegeneinander antreten zu sehen? Was außerhalb der Wiener Opernwelt als problematisch erscheinen mag, wird in Wien bereits als Höhepunkt des nächsten Jahres angesehen, und das Publikum hat sich den Beginn des Kartenvorverkaufs bereits in den Kalender eingetragen.

Die größte Gemeinsamkeit der drei Häuser, die in anderen Opernstädten leider nicht mehr als selbstverständlich angesehen wird, ist ihr Stolz und ihr Selbstbewusstsein, ein Opernhaus zu sein. Während einige Häuser nicht einmal Pressekonferenzen abhalten, um die neue Saison anzukündigen, organisierten die drei Wiener Häuser – zusätzlich zu den Pressegesprächen – Präsentationen für ihr Publikum (und im Livestream). Jedes Haus veranstaltete eine ausverkaufte, zweistündige Veranstaltung auf der Hauptbühne, teilweise mit vollem Orchester, die von den jeweiligen künstlerischen Leiter*innen präsentiert wurde, wobei Sänger*innen, Regisseur*innen und Dirigent*innen die kommende Saison vorstellten. Können Sie sich eine andere Opernstadt vorstellen, in der Sie Anna Netrebko, Sonya Yoncheva, Xabier Anduaga, Federica Lombardi und Georg Zeppenfeld bei einer Spielzeitpräsentation singen hören würden?

Das Wiener Opernpublikum wird mit Respekt behandelt. Sein Wissen und seine Liebe zur Kunstform werden geschätzt. „Ein Bundestheater muss kein Zielpublikum haben, es ist für alle da. Es gibt nicht das Publikum.” (Bogdan Roščić) „Wir sind für jedes Alter des Publikums dankbar und bekommen sehr unterschiedliche Resonanzen vom Publikum [auf unsere Produktionen].” (Stefan Herheim) „Es ist eine heikle Balance, junge Leute anzusprechen, aber auch die Zuschauer zu respektieren, die sich mit dem Haus verbunden fühlen.” (Lotte de Beer)

Statt sich zu verbiegen, sind die Häuser – so unpopulär das in anderen Städten auch klingen mag – stolz darauf, qualitativ hochwertige Operninszenierungen zu zeigen, auch für Familien, um das „begehrte junge Publikum” anzusprechen. Die Volksoper bringt in der kommenden Saison drei neue Produktionen für Kinder und Familien auf ihre Hauptbühne. Das MusikTheater an der Wien widmet in der Regel ein bis zwei seiner 12 bis 13 Neuinszenierungen pro Saison den Familien - Stefan Herheim selbst inszenierte in seiner ersten Saison als Intendant des Hauses Amahl und die nächtlichen Besucher. Und nur wenige Minuten vom Haupthaus entfernt eröffnet die Staatsoper eine ganz neue Spielstätte, die sich an junge Leute richtet. Das Programm wird im Juni bekannt gegeben, umfasst aber fünf Uraufführungen und insgesamt 180 Veranstaltungen. Finanziert wird es vom Offiziellen Freundeskreis der Staatsoper, der mit 1,9 Millionen Euro pro Jahr inzwischen der größte Einzelsponsor des Hauses ist.

Die Antwort auf meine einleitenden Fragen, die die Aussage von Bogdan Roščić bestätigen? Ich überlasse die Antwort Lotte de Beer und Stefan Herheim. De Beer: „Kunst macht die Realität erträglich, Kunst sollte den Komfort erschüttern. Wir müssen über das lachen, was weh tut, über Tabus, gemeinsam über die groteske Wahrheit lachen. Unser Herzschlag wird durch dieselbe Musik synchronisiert.” Herheim: „Wenn wir nicht daran glauben, dass diese Kunstform in der Lage ist, Menschen zu verbinden, dann sind wir verloren!” Wie in anderen Bereichen des Lebens gilt auch hier: Sei dir selbst treu, geh das Risiko ein und scheitere auch mal, der Rest – und ein treues Publikum – wird folgen und dankbar dafür sein.

“das Wiener Opernpublikum wird mit Respekt behandelt”