Wenngleich die Gesellschaft darin schwelgt, ihre Exzesse aufzusaugen, so gibt es doch recht wenige Dinge, die jemand, der sich zum ersten an der Oper versucht, wirklich braucht. Ein geschultes Ohr, ein scharfes Auge und ein Geist, der dramatische Möglichkeiten willkommen heißt, sollten genügen. Doch fundiertes Wissen um die Legende des Orpheus hilft sicherlich auch, so Martin Wåhlberg. „Jeder Opernliebhaber kennt Orpheus – es gibt Dutzende und Aberdutzende Opern zu diesem Stoff, besonders aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Doch fast alle scheinen sich auf den einen Aspekt zu konzentrieren – nämlich die sehr knappe Geschichte über die Liebe. Wir wollten herausfinden, ob es möglich ist, die ganze Geschichte zu erzählen.“
Ich unterhalte mich mit Wåhlberg, Direktor des Orkester Nord (vormals Trondheim Barokk), über deren anstehende Produktion Orfeo Uncut. Er spricht mit der Art Leidenschaft, die Musikern in dieser musikalischen Sparte eigen ist, mitgerissen von einem Reichtum an neuer Information und jemand neuem, mit dem sie darüber fachsimpeln können.
Diese hingebungsvolle Recherche spielt eine zentrale Rolle in der Produktion, die eine vollere, komplexere und radikalere Fassung des Orpheusmythos. Das Ergebnis kombiniert Werke bekannter (Monteverdi, Händel, Telemann) und weniger bekannter Komponisten (Domenico Bell aus Florenz und Stefano Landi aus Rom) in einer Serie von sechs kurzen Sequenzen. Aufgenommen in Trondheims alter Dahls-Brauerei, dann nach Frankreich transportiert (wo die kühne Produktionsfirma Le Philtre sich um das Visuelle kümmert), wird dieser Augen- und Ohrenschmaus im Rahmen des Barokkfest, das vom 30. Mai bis zum 4. Juni stattfindet, online verfügbar sein.
Der Antrieb, die Opern dergestalt zu präsentieren, ist zum Teil eine Reaktion auf unsere Zeit. Wie so viele Organisationen, deren Arbeit eine Vielzahl von Darstellern auf der Bühne verlangt, musste das Orkester Nord seine Projekte angesichts der Coronakrise grundlegend überdenken. Eine Produktion von Händels Orlando in der Opéra Royal de Versailles war ein besonderes Highlight, das dabei auf der Strecke blieb.
Wåhlberg und sein Team mussten die Kunstform in Richtung der heutigen Realität drehen. „Wir wollten kein gestreamtes Konzert oder eine gestreamte Produktion schaffen. Wenn ich ehrlich bin, finde ich Streams langweilig”, lacht er. Doch es steckt auch ein Fünkchen Wahrheit in dem, was er sagt. Noch mehr Zeit am Bildschirm ist in einem Arbeitsleben, das nun derart von digitalen Medien dominiert wird, nicht besonders gesundheitsfördernd. Zudem geht es ums Prinzip. „Unsere Kinder schauen sich nur Dinge im Internet an; sie haben keinerlei Verständnis von linearem Fernsehen. Wenn sie Kinderserien im Fernsehen anschauen, fragen sie nur ‘Können wir die nächste Folge ansehen?‘ Ihnen ist nicht bewusst, dass pro Woche nur die eine Folge ausgestrahlt wird...“
Doch diese Onlineangebote sind mehr als nur die nächstbeste Lösung in Covidzeiten. Wåhlberg glaubt, dass man, anstelle von live-Vorstellungen, Produktionen an die Formate anpassen muss, die ein Publikum außerhalb des Opernhauses tatsächlich konsumiert. „Die Dinge, die die Leute ansehen, sind nicht zu lang. Wann schauen Sie sich denn wirklich Filme auf ihrem Handy oder Ihrem Computer an? [Was Leute wollen] sind nicht notwendigerweise diese stundenlangen Filme, es sind meistens kürzere Sachen.“ Orfeo Uncut konzentriert sich auf kürzere Formen und ist damit Teil eines langfristigeren Ziels des Orkester Nord. „Wir wollen helfen zu ändern, wie Menschen klassische Musik im Internet visuell erleben können, und vielleicht sogar neue Generationen ansprechen – wir werden sehen, wie das Ergebnis aussieht!“
Kollektive Schöpfung ist eine immer häufiger gesehene Schaffensform in Opernhäusern. Für manchen Kritiker ist sie die jüngste Eskalation des Regietheaters, in dem der Regisseur nicht nur frei über alle Elemente der Produktion entscheidet, sondern auch den Kontext der musikalischen Werke grundlegend zum Zwecke seines dramatischen Narrativs ändern kann.
Schmiedet man eine neue Erzählung aus bereits existierendem Material, so hilft es, wenn man mit einer Geschichte wie der des Orpheus beginnt, die wir alle so gut kennen. Doch sehen wir tatsächlich die umfassendste Version des Mythos auf der Bühne? Nicht, wenn man Wåhlberg fragt. „Die Erzählung findet man in Buch 10, und sie ist superkurz. Die ganze Geschichte (Eurydike, die Hochzeit, der Schlangenbiss, die Unterwelt, Orpheus‘ Versuch, sie zurückzuholen, er dreht sich um, sie verschwindet) – das sind vielleicht 80 Verse. Liest man weiter, passieren noch so viele andere Dinge.” Durch erneutes Studium der Quellen (hauptsächlich Ovids Metamorphosen) beleuchtet Orfeo Uncut Teile der Erzählung, die das Bild unseres perfekten Orpheus dekonstruieren (oder zumindest infrage stellen).