Nachdem es monatelang wohl das offenste Geheimnis der klassischen Musikwelt war, wurde vor kurzem offiziell verkündet, dass Serge Dorny, Intendant der Opéra de Lyon, ab 2021 als künstlerischer Leiter die Bayerische Staatsoper übernehmen wird. Dorny ist seit 2003 in Lyon, eine Zeit, in der er vor allem für die Neubelebung des Hauses gewürdigt wurde. Ich habe ihn während des Verdi Festivals getroffen, einige Stunden nachdem die Spielzeit 2018/19 angekündigt worden war, und habe ihn über seine Zeit in Lyon und seine bevorstehenden Herausforderungen gefragt.
MP: Sie haben als Assistent von Gerard Mortier am La Monnaie begonnen. Was haben Sie von der Arbeit mit ihm gelernt?
SD: Es war Mortiers erste Stelle als Intendant und wir Mitarbeiter waren alle sehr jung. Zeit spielte keine Rolle – Kunst war das einzige, was in unserer Welt existierte. Es war fast wie eine Sekte mit einem Guru. Mortier hatte die Fähigkeit, die Menschen um ihn herum regelrecht zu elektrisieren. Er war ein sehr leidenschaftlicher Mann und ich habe gelernt, dass dieser Job nicht möglich ist ohne Leidenschaft. Ich habe auch die Notwendigkeit der Kunst gelernt, und wie wichtig Kunst in der Gesellschaft ist. Wir haben es unterschiedlich ausgedrückt, aber was ich wirklich von ihm gelernt habe, war diese Notwendigkeit. Alles war aus einen bestimmten Grund geplant. Das waren die grundlegenden Elemente. Oper ist unverzichtbar in der heutigen Gesellschaft, heute noch mehr als gestern. Wir leben in einer Gesellschaft, die nach ihrer Identität sucht; wir haben keine Perspektive, keinen Tiefgang, wir haben keine Orientierung. Kunst kann einer Durchschnittsgesellschaft Tiefe geben, die sich ansonsten mit Konsum zufrieden gibt. Es ist wie ein Schaufensterbummel. Wir sind eine Gesellschaft, die keine Entscheidungen treffen möchte. Wir sind eine Gesellschaft, die unfähig ist, die Vergangenheit zu hinterfragen, um in die Zukunft zu blicken. Es ist eine Gesellschaft, die es bevorzugt, zu jammern und mit dem Finger auf andere zu zeigen, anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Wir können die Kunst nicht einfach als Konsumgut betrachten. Kunst sollte die Menschen animieren, zu denken und Fragen zu stellen und vielleicht grundlegend ihre Sichtweisen zu ändern. Das bedeutet nicht, dass wir Antworten geben können, aber ich hoffe, dass eine Vorstellung etwas in Ihnen bewirkt und Ihre Sichtweise ändert. Das sind die Ideen, die ich in diesen frühen Jahren mit Mortier gelernt habe. Wir waren Freunde fürs Leben – wir haben nur drei Tage vor seinem Tod miteinander gesprochen – und ich kann mir nicht vorstellen, anders an die Dinge heranzugehen und ich denke, das liegt daran, dass diese Grundideen so stark waren.
Denken Sie an unsere Inszenierung von Macbeth, die von Machtmissbrauch handelt und wie Menschen manipuliert werden. Führer sind in der Lage, ihr wahren Überzeugungen aufzugeben, als Reaktion auf eine Meinungsumfrage. Sie sehen, wie die Hexen Macbeth dazu bringen, das schlimmste Verbrechen zu begehen, aber dies geschieht heutzutage in der Geschäftswelt, in der Politik. Die Handlung auf die Occupy Wall Street-Bewegung to übertragen und zu sehen, wie die Politik vollkommen von der Finanzwelt geleitet wird, ist sehr intelligent. Politiker und Geschäftsführer wollen an der Macht bleiben und sind in der Lage, Verbrechen zu begehen, Gegner auszuschalten, um an der Macht festzuhalten. Es war Václav Havel, der gesagt hat, dass wenn man von der Macht trinkt, man machttrunken wird.
Die Opéra de Lyon hat letztes Jahr bei den International Opera Awards als Opernhaus des Jahres gewonnen. Worauf führen Sie den Erfolg des Hauses zurück?
Ich hoffe, dass wir diesen außerordentlichen Preis, für den wir sehr dankbar sind, nicht nur für unser Handlungen eines Jahres bekommen haben. Seit 2003 versuchen wir eine echte Identität dieses Hauses aufzubauen – eine DNA, die auf einem Repertoire abseits des Üblichen und auf neuen Werken beruht. Zweitens machen wir die Oper durch die zeitgenössischen Werke, die wir präsentieren zu einem modernen Genre und nicht zu einem Genre, das in einem Mausoleum eingesperrt ist und nur darauf wartet, dass wir den Schlüssel unter dem Teppich herausholen und die Türen schließen. Ich hoffe auch, dass es für unsere Offenheit und Zugangspolitik ist, für die Art und Weise, wie wir die Leute in das Haus gebracht haben, die aber auch das Opernhaus verlassen haben, um der Oper eine politische Bedeutung im wahrsten Sinne des Wortes zu geben.
Wird Oper noch immer als elitär in Frankreich gesehen?
Das hängt von uns ab und davon, wie zugänglich wir sie machen. Wenn ich mir die Ticketpreise ansehe, ist es manchmal eine erschreckende Realität. Wenn man für zwei Tickets £400-500 zahlen muss, ganz ehrlich, ich könnte nicht gehen, selbst bei all der Liebe, die ich für die Kunstform habe. Wenn wir darüber sprechen, sie populär zu machen, geht es nicht darum, in die Stadt zu gehen, es geht darum, Platz zu schaffen, um in die Gebäude zu kommen. Wir sprechen von einer finanziellen Realität – in Lyon kosten Tickets zwischen 5€ und 100€ und das erlaubt es uns, ein vielfältiges Publikum in die Oper zu locken. Sie können es so elitär machen, wie Sie wollen. Sie schaffen den Zugang selbst.
Nichts kann es ersetzen, eine Oper live zu hören: die gemeinsame Konzentration, die Stille, der geteilte Applaus, die Buhs die Bravos – das kann nichts ersetzen. Die Hifi Ausrüstung kann noch so außergewöhnlich sein, aber man hat nicht dasselbe Zuhör- und Zuseherlebnis als wenn man selbst im Haus mit den Künstlern ist. Die Nähe ist überwältigend.
Lyons neue Saison sieht keine Klassiker vor, die oft als Einstieg in die Oper gelten – keine Traviatas, Bohèmes, Rigolettos. Es ist ein mutiges Programm.
Jede Kultur hat einen unterschiedlichen Hintergrund, ihre eigene Geschichte und Traditionen und wenn man wo bestellt wird, begibt man sich mit diesem Haus auf eine Reise. Es ist etwas, an das man sich schrittweise annähert. Was ich jetzt mache, wäre 2003 unmöglich gewesen.