An Countertenöre haben sich ja die meisten mittlerweile gewöhnt oder sich zumindest mit Ihnen arrangiert, Must-Have-Arien aus bekannten Händel- und Vivaldi-Opern können auch schon mitgesungen werden und überraschen daher kaum. Wenn aber doch, dann muss etwas Besonderes passieren. Und genau dies gelingt dem hochgelobten Star-Stimmakrobat Franco Fagioli, der mit seinen ungehört individuellen Einfällen an da capo-Variationen sicheres altistisches Repertoire mit neuen Facetten, Eindrücken und Spannungen erfrischt. Begleitet vom Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon (am Cembalo) zündete er in der Philharmonie Essen ein passenderweise italienisches Barockfeuerwerk.
Nach Vivaldis Sinfonia zu La Senna Festeggiante, die das Ensemble geschmeidig und feingliedrig als Entrée intonierte, in den Allegri mit spritzigen Unisono-Streichern und fundiertem Basso Continuo, im Andante molto zugleich schmerzlich-eingehend wie nüchtern, entfaltete Franco Fagioli seine Stimme zur Kantate Cessate, omai cessate. Gleich präsent und Kontakt aufnehmend führte er mit dynamisch-emotionalem Eingangs-Rezitativ und anschließender Arie „Ah, qu'infelice sempre“ von unglückseligem Schmerz geplagten Todeswunsch mit ganzem Körper situativ, plastisch vor Augen. Untermalt von Pizzicato-Sechzehnteln der Streicher und -Achteln des Basso waren die mit Triolen und Verzierungen im wahrsten Sinne des Wortes atemraubenden, wehklagenden Seufzer in Ausbrüchen über drei Oktaven nicht nur heraushörbar, sondern mit allen Sinnen zu spüren.
Mit dem Stilmittel der wie im Winter seiner Vier Jahreszeiten kühl und scharf kratzenden Streicher leitete Vivaldi in die aus dem Erlösungsverlangen umschlagende Rachelust über, die er in finaler Arie „Nell'orrido albergo“ mit einem Schwung an rockigen Sechzehntel-Blöcken, punktierten Triller-Figuren und rhythmisch-schlagendem Continuo im forte-piano-Wechsel vertonte. So aufgedreht und aufgekratzt, Orchester und Solist phrasierten und betonten nahezu wunderbar identisch, brachte Fagioli das Publikum mit seinem halsbrecherischen Furor in Ausdruck, Tempo und stimmlicher Wachheit schon nach seinem ersten Auftritt verdientermaßen zu einer Kaskade von Jubel und Bravo-Rufen.
Mit Veracinis Ouvertüre Nr. 6 nahm das Venice Baroque Orchestra den rein instrumentalen Part wieder auf, der sich programmatisch und farblich gut mit den Gesangsstücken ergänzte. Darin ließ das Orchester aber bereits erahnen, dass es trotz allen Bemühens an diesem Abend nicht ganz an das Niveau von Fagioli heranreichte. Denn abseits lobenswerter Phrasierung mit rechter Hand der Streicher im Largo und teilweise knackig-lebendigen Basssprühens im finalen Allegro verfestigte sich der Eindruck eines in Kombination mit dem Gesangssolisten etwas unpassend zurückhaltenden, angestrengten Ensembles. So hätten alle, nicht nur die zirpenden Oboen im rhythmisch-wiegenden ersten Allegro oder luftig-leichten Finalsatz, sondern auch Fagott und Unisono-Echo-Violinen eine Portion mehr Frische, Lebendigkeit und Genauigkeit vertragen können.