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Aus dem Handgelenk erschüttern: Beethovens Missa solemnis mit Philippe Herreweghe

Von , 26 Dezember 2023

An Silvester gehört es inzwischen zum guten Ton vieler Symphonieorchester, Ludwig van Beethovens Neunte auf das Programm zu setzen. Dass die Münchner Philharmoniker Beethovens große, festliche Missa solemnis so dicht vor den Weihnachtsfeiertagen zur festtäglichen Einstimmung anboten, mag anfangs ein unbeabsichtigtes Ergebnis künstlerischer Terminplanung gewesen sein. Dabei wäre es auch Stoff für eine einleuchtende Tradition, liegt die Missa, 1824 vollendet, in der Opuszahl 123 doch dicht vor der Neunten; in einer Zeit, als Beethoven seine Studien Bachscher und Händelscher Werke abschloss. Beide titanischen Werke nun in enger Nachbarschaft: auf jeden Fall eine Herausforderung für Instrumentalisten und den Philharmonischen Chor München, die bei der Missa ihre Parts bravourös gestalteten und in einer Woche mit der Neunten antreten.

Hanna-Elisabeth Müller, Anna Lucia Richter, Ilker Arcayürek und Tareq Nazmi
© Tobias Hase

Bereits 1819 begann Beethoven mit den Arbeiten an der Missa, die er zur geplanten Inthronisation seines Freundes, Erzherzog Rudolph, zum Erzbischof von Olmütz fertigstellen wollte. Da aber kein konkret bindender Auftrag für das Werk vorlag und Beethovens Arbeit sich in die Länge zog, fand die Ernennungsfeier ohne Missa statt. Erst im April 1824 erklang das Werk erstmals auf Vermittlung des Fürsten Nikolaus Galitzin als Oratorium im Rahmen philharmonischer Konzerte in St. Petersburg. In Wien wurden Teile der Messe dann einen Monat später im Beisein von Beethoven aufgeführt.

Zwei ausverkaufte Abende in der Isarphilharmonie konnten die Münchner Philharmoniker verbuchen. Mit Sicherheit machte auch die Erinnerung an den Gastauftritt von Philippe Herreweghe im Vorjahr mit Mozarts Requiem bei dem Orchester neugierig, der in der Münchner Presse begeistert gefeiert worden war. Mit knapp 40 Streichern hatte Herreweghe den Orchesterapparat nun nicht übermäßig groß bemessen, die Bläser damit wirkungsvoll akzentuiert. Direkt dahinter (einmal nicht auf dem erhöhten Galeriebalkon) waren 70 Chorsänger aufgestellt, einige davon Gäste von Herreweghes Collegium Vocale Gent. Wie der Chor standen die vier Solisten direkt auf Ebene der Philharmoniker, wirkten wie ein stimmfunkelnder Kammerchor zwischen großem Vokalensemble und Orchester, formten ein verschmelzendes, grandioses Klangbild aller Beteiligten. Dem Geist der Messe entspricht es dabei auch, dass der Chor zahlen- und kräftemäßig gegenüber Solistenquartett und Orchester dominiert, gleichsam als Gemeinde Gott anruft.

Philippe Herreweghe mit Solisten, Chor und Orchester
© Tobias Hase

Andachtsvoll, wie tastend begann Herreweghe das Kyrie eleison, das nach dichten Streicherharmonien Klarinetten-, Oboen- und Flötenrufe mit dem Thema schichtet, dann im massiven Choreinsatz mündete, demütig und doch majestätisch. Vom Hornsolo geführt klang das beschwörende Christe eleison wie ein zweites sinfonisches Thema, persönlicher, ergriffener. Hier war bereits zu bewundern, wie homogen das Quartett aus Hanna-Elisabeth Müller, Anna Lucia Richter, Ilker Arcayürek und Tareq Nazmi besetzt war, wie unmerklich die Textabschnitte vom Sopran in den Alt, vom Bass zum Tenor wechselten, aus dem Quartett in den Chor mutierten.

Schroffere Temporelationen fielen in den folgenden Sätzen auf, die Herreweghe herb und dramatisch gestaltete. Wie eine ekstatische Verkündigung wuchs das Gloria empor, unterbrochen nur von mild gedämpftem, fast ungläubig erstauntem „et in terra pax“ oder dem stillen „gratias agimus“. In üppiger Kraft schwoll der Ruf „Deus pater omnipotens“ zum überwältigenden Klangsymbol der Allmacht Gottes. Voll erhabener Prägnanz gestaltete der Chor dann die gewaltige Fuge „Quoniam to solus sanctus“, die Beethovens aufmerksame Arbeit aus Bachschen Vorbildern zeigte, ihn darüber hinaus als Meister symphonischer Scheinschlüsse auswies.

Herreweghe leitete dabei meist sparsam, eher zurückhaltend. Statt ausladender Armschwünge kamen viele Akzente aus fast wischenden Unterarmgebärden, dem Wink einer Kopfbewegung, gar einer tänzerischen Attitüde. Die großen Steigerungen im Credo baute er bezwingend auf, mitreißend wuchtig in harscher Körnigkeit. Atemberaubend so viele Details, wie das gregorianisch psalmodierende „Et incarnatus est“ der Tenorstimmen, die gewaltige Doppelfuge aus „vitam venturi saeculi“ und „Amen!“, in der scheinbar müheloser Gestaltungsaufbau des von Andreas Herrmann vorzüglich einstudierten Chores zu bewundern war, wobei insbesondere die unangestrengte Klarheit der Sopranstimmen in fordernder Höhe und bei beispielhafter Deutlichkeit des Textes immer wieder frappierten.

Ein weiterer Höhepunkt das Benedictus, von mystisch anmutendem Orchestersatz innig eingeleitet, bei dem Violinsolo (bewegend Julian Shevlin) und Flötenstimme aus einer anderen Welt zu kommen schienen, das Solistenquartett warm leuchtend die Verheißung ausmalte. Beschwörend schließlich die Bitte um Frieden, die offenbar zu Beethovens Zeit die Menschen ebenso unerbittlich umtrieb wie heute: der unfriedliche Lärm von Pauken und Blechbläsern erschütterte allzu große Sicherheit, ließ nur ein scheues „dona nobis pacem“ zu, zweifelnd als sei es nicht zu fassen, das Wunder eines Friedens.

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“wie eine ekstatische Verkündigung wuchs das Gloria empor”
Rezensierte Veranstaltung: Isarphilharmonie, München, am 22 Dezember 2023
Beethoven, Messe in D-Dur "Missa solemnis”, Op.123
Philippe Herreweghe, Musikalische Leitung
Hanna-Elisabeth Müller, Sopran
Anna Lucia Richter, Sopran
Ilker Arcayürek, Tenor
Tareq Nazmi, Bass
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