Gäbe es diese Oper nicht, dann hätte Arrigo Boitos Mefistofele speziell für die Oper Stuttgart erfunden werden müssen, denn auch wenn der teuflische Mephisto und nicht Faust die Titelfigur und nahezu ubiquitär auf der Bühne präsent ist, kommt die heimliche Hauptrolle dem Chor zu – als himmlische Heerscharen, als Volk, das sich sinnlichen Vergnügungen hingibt, als Hexen auf dem Blocksberg, denn kein Opernchor wurde derart häufig zum Chor des Jahres gekürt, wie der Stuttgarter, und er macht auch hier seinem Ruf alle Ehre. Unter Manuel Pujols Leitung lotete er alle Ausdrucksspektren aus, vom lieblich harmonischen Gesang der Engel bis zum orgiastischen Toben beim Hexensabbat und dem mächtig anschwellenden Finale des Epilogs. Kein Wunder, dass das Publikum ihn mit Ovationen feierte.
Ovationen gab es auch, gleichermaßen verdient, für Mika Kares. Als Mefistofele kommentierte er sarkastisch mit schwarzem Bass seine Sicht der Welt, näherte er sich überredend und schmeichelnd seinem Opfer Faust und thronte er souverän über dem Tanz der Hexen. Diese Vielschichtigkeit ließ Antonello Palombi ein wenig vermissen, er verließ sich allzu sehr auf die brillante Italianitá seines Tenors, lotete aber die Gefühlstiefen der Figur zu wenig aus, ganz im Gegensatz zu Olga Busuioc, die vor allem in der Wahnsinnsszene der im Kerker auf die Hinrichtung wartenden Margherita alle Register beherrschte, von der hochdramatischen Verzweiflung über ihren Kindsmord bis zur sehnsuchtsvollen Erinnerung an bessere Zeiten.
Angesiedelt ist das alles in einem einfachen, aber wandlungsfähigen Bühnenbild von Alfons Flores. Anfang und Ende spielen in einem Labor, in dem Faust mit anderen Forschern Organe seziert. Für den Rest genügt ein Turm aus Metallgestänge, in dem sich das Volk in der Freizeit verlustiert, die Hexen tanzen, Mefistofele wie ein König über allem steht und Margherita auf einen elektrischen Stuhl steigt. Einerlei in welche Sphäre der Welt man blickt, will dieses Bühnenbild sagen, es herrscht überall gleiche Gefühlslosigkeit und geistige Armut. Kein Wunder, dass Faust mit diesen Zeitgenossen nichts zu tun haben möchte.
Auch Regisseur Àlex Ollé findet zu manchen symbolischen Gesten. So wendet sich Mefistofele, der schon mit Margheritas Nachbarin Martha nicht viel anfangen kann, im Elena-Akt von Elenas Gefährtin ab, beide von Fiorella Hincapié verkörpert, so wie auch Margherita und Elena, die beiden Frauen, auf die Faust sich stürzt, von einer Sängerin verkörpert werden – die Frau an sich.