Es ist kein Benjamin Britten-Jubiläum auszumachen, und dennoch haben in diesem Frühjahr drei bayerische Bühnen seine Oper Peter Grimes auf ihrem Spielplan: nach der Staatsoper in München (Inszenierung Stefan Herheim) kürzlich das Staatstheater Augsburg und nun Nürnberg. Zieht man noch die beeindruckende Sicht des jungen österreichischen Regisseurs Alexander Charim am Landestheater Coburg (bis 2019 im Repertoire) in Betracht, muss man von einem Glücksfall für Werk und Publikum sprechen, erst recht, da alle Produktionen ihre individuelle Auseinandersetzung mit dem Stoff suchen.
Drei Jahre hatten Britten und sein Lebenspartner Peter Pears im selbstgewählten Exil in Nordamerika gelebt. Bei der Rückkehr in die Heimat trug Britten George Crabbes Verserzählung The Borough im Gepäck; das kleine Dorf an der rauen Ostküste Englands erinnerte ihn an seine Herkunft aus Suffolk. Im Libretto von Montagu Slater wird der Fischer Peter Grimes beschuldigt, seinen Lehrling auf See umgebracht zu haben. Aus Mangel an Beweisen wird er schließlich freigesprochen, doch die Dorfbewohner bleiben misstrauisch, meiden ihn fortan. Bis auf Kapitän Balstrode und die Lehrerin Ellen Orford, die Peter liebt und ihn heiraten möchte. Als auch der zweite Lehrling stirbt, sieht die Dorfgemeinschaft Grimes als Mörder; der aufgebrachte Mob begibt sich auf den Weg zu seiner Hütte.
Wer genau ist dieser Peter Grimes eigentlich? Ein Fischer offenbar, und ein Außenseiter dazu. Ist er ein Menschenfeind, ein brutaler Draufgänger, ein Homosexueller etwa, womöglich sogar ein Kinderschänder? Der deutsche Theaterregisseur Tilman Knabe lässt es schnell eindeutig werden: Grimes nimmt die Lehrlinge, um die sich als Waisen keiner mehr richtig kümmert, hart und oft heftig heran. Das kann bis zum Missbrauch gehen, ein Tabu, das zu Crabbes Zeit ignoriert wurde. Und nicht nur damals zeigte sich der Mechanismus, dass Opfer allein bleiben, weil die Nachbarn wegschauen, vielleicht mit ihren eigenen Lehrjungen nicht viel besser umgehen. So erlebt Grimes die Gerichtsverhandlung, die die Vorwürfe gegen ihn verhandeln soll, als Angsttraum; ein Albtraum sind die Bilder, unter denen er sich zu Beginn der Oper in seinem Bett herumwälzt. Selbst der einstweilige Freispruch beginnt erst beruhigend zu wirken, als Ellen ihn in die Arme nimmt, wie eine Pietà ihren tief verletzten Sohn. Am Ende sieht man Grimes mit dem Messer vor dem erstochenen Jungen stehen, den Leichnam einwickeln und auf den Müllhaufen werfen.
Das Staatstheater Nürnberg hat Tilman Knabes Regiearbeit vom Theater Dortmund übernommen und hier neu eingerichtet; das kleine Fischerdorf (bedrückendes Bühnenbild: Annika Haller und Wilfried Buchholz) ist nicht nur arm, sondern heruntergekommen; Menschen, die dort in spartanischen Campinganhängern ihr Leben fristen, ist Empathie fremd, jeder sich selbst der nächste. Sie stieren auf ihre Smartphones, konsumieren reichlich Zigaretten und Alkohol aus Dosen, in billigen abgetragenen Klamotten (Eva-Mareike Uhlig). Das ist zeitlos und jetzt; selbst Grimes befragt seine Wetter-App auf dem Notebook für die beste Fangzeit. Modernen Bezug sucht Knabe auch zum Fall des deutschen Kindermörders Jürgen Bartsch aus den Sechziger Jahren, in Texteinblendungen, welche die Perspektiven aber nicht verändern.