Es ist faszinierend, wenn zu Beginn des Vorspiels das Grummeln der tiefen Streicher einsetzt, tastende Sekundschritte sich formen; als ob eine träge, heiße Lavamasse in einem Vulkankrater in Bewegung kommt. Kleine Terzen, neue Intervalle werden vorsichtig erforscht, fließen wie eine Melange ineinander, sammeln Energie. Und die wird plötzlich nach oben geschleudert, eine kurzzeitige Eruption von Klängen, mitreißende Bewegung, ein trügerisches Aufatmen gar.
Da glaubt man Wagners unendliche Linien fein verästelter Motive, die Nähe zu Parsifal oder Tristan zu entdecken. Der unerwartete Reiz liegt jedoch darin, dass es ein Drama des Unausgesprochenen, Rätselhaft-Geheimnisvollen bleibt. Keine Psychologie also, bei der der Hörer in Verwendung von symbolbehafteten musikalischen Motiven die Handlung voraussieht. In Claude Debussys einziger Oper Pelléas et Mélisande bleibt der Orchesterpart die Stimme des Unbewussten, auch des Mehrdeutigen oder nicht Entschlüsselbaren. Seine zauberhaften Klänge, wie aus einer anderen Welt, wurden ideale Ergänzung zu einem Poem, in dem die Worte nur die Hälfte von dem aussagen, was in ihnen verborgen ist.
Maurice Maeterlincks Libretto beschreibt eine nicht ungewöhnliche Dreiecksgeschichte: in einem Fantasie-Mittelalter lebt die Familie des Königs Arkel auf einem einsamen Schloss im Wald. Seine Schwiegertochter Geneviève hat zwei Söhne, den dynamischeren Golaud und Pelléas, einen sensibleren jungen Mann, beides Halbbrüder. Auf der Jagd entdeckt Golaud im Wald die rätselhaft scheue, wunderschöne Mélisande, die über ihre Herkunft beharrlich schweigt, im Gepäck aber eine Krone mitführt. Er nimmt sie mit auf das Schloss, heiratet sie bald. Doch dann verlieben sich Mélisande und Pelléas ineinander. Im Affekt ermordet Golaud seinen Halbbruder, demütigt Mélisande.
Maeterlinck reichert sein Libretto dabei mit vielen Symbolen an: das Faszinosum von Mélisandes langen Haaren, ihr Spiel mit dem Hochwerfen des Eherings etwa oder die Gedanken des Enkelsohns Yniold, der eine Herde von Schafen zu hören glaubt, die zur Schlachtbank geführt werden. Debussy schuf mit seiner feinsinnigen, ätherischen Klangsprache vielschichtige Psychogramme der Personen, malt eine Aura des Geheimnisvollen in den eher parlandohaften, unendlich scheinenden Fluss der Musik, der zwar Momente des Aufbäumens kennt, aber ohne den großen Sturm der Leidenschaft daherkommt.
Bereits vor zwei Jahren wurde Pelléas et Mélisande am Staatstheater Nürnberg mit Joana Mallwitz konzertant aufgeführt, Pandemie-Einschränkungen verhinderten die bildliche Präsentation. Nun brachte Generalintendant Jens-Daniel Herzog die selten zu erlebende Oper auch szenisch eindrucksvoll auf die Bühne. Im Zusammenspiel mit dem bewährten Bühnenbildner Mathis Neidhardt ist die Handlung in einen drehbaren Kubus verlegt, dessen beherrschende Esstafel mit weiten Abständen der Personen untereinander bereits genug Symbol für die Entfremdungen in der Familie ist. Die Begegnungen in Wald und Garten spielen um dieses Zentrum herum, in nächtlichem Schwarz und punktueller Beleuchtung (Fabio Antoci mit geschickter Lichtregie).
Herzog findet für die Handlung im scheinbar noblen Saal den Ausdruck der bedrückenden Atmosphäre, den Mélisande einmal kommentiert: „Man sieht hier nie den Himmel.“ Auf den Zwiespalt gespielter Ehrenhaftigkeit und individueller Verhaltensweise insistiert er ungeschönt. Zwischen herum eilenden Bedienerinnen, die in silbernen Terrinen Mahlzeiten auftragen, schlittern die royalen Familienmitglieder mit ihrer Eiseskälte in eine albtraumhafte Konstellation. Selbst Pelléas kommt da mit der Liebeserklärung nur schwer aus seinem seelischen Panzer: wenn Debussy gar den Melodiefluss anhält, resümiert er bündig „je t’aime“, Mélisande darauf fast lakonisch „je t’aime, aussi“.