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Mischpult-Magie: Christian Thielemann mit dem BRSO

Von , 03 Juli 2023

Es ist faszinierend, guten Toningenieuren bei der Arbeit zuzusehen. Wie sie bei all den Schiebern, Knöpfen und Reglern nicht nur nicht den Überblick verlieren, sondern aus den Tausenden unterschiedlicher Kombinationen blitzschnell die richtige Kalibrierung vornehmen: Hier ein bisschen mehr, dort ein bisschen weniger, und schon nähert sich die Wirklichkeit dem Idealklang an.

Christian Thielemann
© BR | Alescha Birkenholz

Diese Faszination wurde beim Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks entfacht, wenn man Christian Thielemann beim Dirigieren zusah. Nicht nur kennt Thielemann die Partitur von Bruckners gewaltiger Fünfter Symphonie in- und auswendig. Er nutzt auch seine Souveränität und Autorität, um mit fein dosierten Gesten und Impulsen das BRSO außerordentlich differenziert auszusteuern. Im wahrsten Sinne des Wortes im Handumdrehen, nämlich indem er seine linke Hand schlicht umdrehte, verringerte er die Lautstärke der Kantilenen der ersten Geigen im zweiten Satz um ein bis zwei Stufen – um bei der Mischpult-Metapher zu bleiben. Teils vibrierten seine Finger in der Luft und übertrugen diesen Impuls als Spannungselement auf die jeweiligen Instrumentengruppen, teils warf er kurze Gesten über die Streicher hinweg zu den Blechbläsern, die Dank seiner vorausschauend unterstützenden Signale fast immer perfekt zusammen einsetzten und ihren satten Klang durch den altehrwürdigen Herkulessaal strömen ließen. Gerade Bruckners Fünfte Symphonie lebt ja vom Wechselspiel der Streicher mit den Bläsern. Und so entfaltete sich bereits nach dem ersten Unisono-Aufschwung zu Beginn des ersten Satzes bei dem feierlichen Blechbläserchoral hin zum A, gefolgt vom erneuten Aufschwung in B bis hin zum Höhepunkt der Introduktion in A-Dur eine spirituelle Magie, die verstehen ließ, warum die Nachwelt dieser Symphonie die Beinamen „Glaubenssymphonie“ oder „Katholische“ gegeben hat.

Christian Thielemann dirigiert das BRSO
© BR | Alescha Birkenholz

Thielemann präsentierte sich und das BRSO auf dem Höhepunkt der Bruckner-Interpretation. Was bei anderen wie Klangfetzen daherkommt, waren hier Abschnitte, die nicht abgeschnitten waren. Fast unmerklich stützte Thielemann vor dem Ende der Passagen die führenden Instrumentengruppen. Ritardandi, ohne langsamer zu werden. So wie der Pianisten-Titan Grigory Sokolov von seinen Schülern gefordert haben soll, ein Crescendo auf einem bereits angeschlagenen Ton zu spielen. Und nach einer derart feinfühligen Phrasierung begann sodann ein neuer Absatz des gewaltigen Klangepos. Als sich im Adagio die lyrische Oboen-Melodie in Duolen über das triolische Fundament erhob, wurde eine weitere Fähigkeit Christian Thielemanns offenbart. Er versteht es nicht nur, das Orchester zu ziehen und wo nötig ein wenig zu treiben, sondern auch dagegenzuhalten, wo Hemiolen und gegenläufige Rhythmen zum Beschleunigen verleiten. Die eine Hand schlägt weiter und die andere schiebt sanft zurück. So gelangen auch die heikelsten Pizzicato-Passagen perfekt synchron und doch fragil im Ausdruck. Dank höchster Konzentration der Musiker und des Publikums. Selten hatte man in einem Konzert so wenige Störgeräusche wahrgenommen. Die Zuhörer hielten wahrhaft den Atem an.

Mit dem Scherzo wurde die Brücke geschlagen hin zum dramatischen letzten Satz, der Abgesang und Neuanfang zugleich verheißt. Die Themen werden nochmals aufgegriffen und kontrapunktisch variiert, neue Einfälle werden verarbeitet. Die Orchestermaschine lief wie geölt, Thielemann genoss sichtlich die Perfektion des Zusammenspiels. Wer zu Anfang befürchtet hatte, dass Thielemann im ersten Satz bereits zu viel Pulver verschießen würde, wurde im Finalsatz eines Besseren belehrt. Die glanzvolle Apotheose des Blechbläserchoralthemas, gefolgt vom Hauptthema aus dem Kopfsatz mündete in den gewaltigen Schlussteil, bei dem man schier von den Sitzen gefegt wurde. Staunend wurde man Zeuge eines Phänomens, das man am besten Mischpult nicht einregeln kann. Ein großer Bogen wurde zu Ende gespannt, den Thielemann klug und vorausschauend vom ersten bis zum letzten Takt mit einem BRSO in Bestform gestaltet hatte.

Mit dem Verklingen des letzten Tons erstarrte Thielemann und das Orchester, die Bögen noch in der Luft. Eine 30-sekündige Ewigkeit, bis der Maestro die Spannung löste und der Applaus losbrach.

*****
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“die Zuhörer hielten wahrhaft den Atem an”
Rezensierte Veranstaltung: Die Residenz: Herkulessaal, München, am 1 Juli 2023
Bruckner, Symphonie Nr. 5 in B-Dur, WAB105
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Christian Thielemann, Musikalische Leitung
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