Zum zweiten Mal, seit das Musikfest Berlin veranstaltet wird, sind Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra dort zu Gast – jeweils mit einer Symphonie Gustav Mahlers. Mahlers Worte, nach denen seine seine längste Symphonie, die Dritte in d-Moll, eine „alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Steigerung umfassende musikalische Dichtung“ bildet, die bei der „leblosen Natur“ beginnt und bis „zur Liebe Gottes“ führt und sich für die Irrungen auf dem Weg dahin Zeit zulässt, sind leitend sowohl für die Musiker als auch die Hörer geblieben: so auch bei dem Auftritt des Boston Symphony Orchestra unter seinem Chefdirigenten.
Nur gelingt die Umsetzung der Mahlerschen Idee bei Weitem nicht immer so gut wie bei dieser Aufführung. Dies verdankt der Abend Nelsons mit souveräner Geistesgegenwart geführtem Dirigat. Der noch nicht vierzigjährige Dirigent verfügt bereits über reichlich Mahler-Erfahrung und strahlt vom ersten bis zum letzten Takt die Ruhe eines erfahrenen Orchesterleiters aus. Allerdings kann Nelsons seine künstlerischen Absichten nur deshalb so gut verwirklichen, weil er über ein Orchester verfügt, das durch eine enorm hohe Orchesterkultur vieler begnadeter Musiker ausgezeichnet ist.
Schwere Töne eröffnen den ersten Satz, in dem ein wie noch ungestalteter Rohstoff schrittweise Gestalt annimmt. Sehr herb ließen die Hörner den Weckruf des ersten Themas ertönen. Die Celli setzten ihm im knöchern-trockenen Ton raunende Läufe entgegen. Einzelne, durchaus auch hässlich klingende Naturlaute, aber auch Anklänge an Märsche, ja sogar solche, die an einen Jahrmarkt erinnern, wurden hörbar. Dies alles verband sich aber nie zu einem geschlossenen Ganzen, sondern wies voraus auf etwas, was noch kommen würde. Nelsons war mit jeder Geste der konzentrierte Regisseur dieses riesigen Klanggebirges, verlor in keinem Moment dieser kalkulierten Unordnung den Überblick. Der Satz fiel ihm auch nicht auseinander, weil er seinen inneren Zusammenhalt erfasst hatte. Mahler exponiert in dem riesigen Eröffnungssatz neben etlichen Motiven doch zwei Themen, die dem alten Gegensatz von Haupt- und Seitenthema wie als einem „ewigen Gesetz“, so Mahlers eigene Worte, verpflichtet sind: das einem Regimentsmarsch abgehörte erste und das ein Wanderlied alludierende zweite, und er tauscht im Laufe des Satzes mehrfach ihre Charaktere aus. Das Plebejische wird dabei zum Sublimen und umgekehrt. Denn dass es bei Mahler nach seinen eigenen Worten „nicht ohne Trivialitäten abgehen kann“, hatten die Musiker genau verinnerlicht. Sie entwickelten auf diesem thematischen Gerüst Mahlers große Kunst der Themenmetamorphose. Ein Sonderlob verdient der Soloposaunist Toby Oft, der in der Durchführung die so heikle wie gefürchtete Passage mit großem erzählerischen Ton vortrug.