Einfach ist es nicht, wenn einem der verblichene Übervater im Nacken sitzt: in Vielem hatte ich den Eindruck, dass Sir John Eliot Gardiner vermeiden wollte, Monteverdis L'incoronazione di Poppea als ein Harnoncourt/Ponnelle-Imitat auf das Podium in Luzern zu bringen. Falls das – bewusst oder unbewusst – die Idee war, musste es fast zwangsweise schiefgehen. Viel besser wäre gewesen, Harnoncourt zu ignorieren, zu vergessen (zugegeben: ich kann das selbst nicht), und aus der Partitur von Grund auf ein Konzept zu erarbeiten, ungeachtet der Frage, ob das Resultat demjenigen anderer Interpreten gleicht.
Beginnen wir bei der Inszenierung (Gardiner, in Zusammenarbeit mit Elsa Rooke). Eine halb-szenische Aufführung ist schwieriger als eine szenische, liegt doch hier das ganze Gewicht auf den Charakteren und deren spärlichen Aktionen und Gesten. Prinzipiell war das Setting mit den English Baroque Soloists dasselbe wie bei Orfeo. Wieder waren die Kostüme zeitlos, schlicht und eher nebensächlich, auch wenn sie natürlich die Ausstrahlung einer Person verstärken, gar prägen können. Das Programmheft spricht vom „Triumph des nackten Eros“, die Ankündigung in den sozialen Medien von „Sex und Crime“. Sex wurde in typisch englischem Understatement nicht einmal angedeutet, einen Hauch von Erotik versprühte allenfalls die zierliche Darstellerin des Amore auf ihren Stilettos.
Nun ist jedoch Eros in das Libretto eingeschrieben; Poppea ist eine Edelprostituierte oder zumindest eine promiskuitiv lebende Frau, die ihre Reize für ambitiöse Absichten nutzt. In dieser Aufführung schien Poppea visuell eher Unschuld als verführerische Dekadenz darzustellen. Die Figur des Nerone (Countertenor) – Paradebeispiel eines herrsch- und selbstsüchtigen Mannes – war androgyn gezeichnet, die Rolle des Ottone als eines von Liebe getriebenen Wankelmütigen zu männlich. Drusilla zum Beispiel, die bei Ottone mit den Reizen ihrer Weiblichkeit mit Poppea konkurrieren sollte, erschien sogar im Vergleich zu ihrem Angebeteten als die stärkere Persönlichkeit. Arnalta ist der Prototyp einer Transvestitenrolle – von einer Frau gesungen, ist ein Großteil der Komik bereits vergeben. Das Fehlen von Requisiten führte auch zu Unstimmigkeiten, so soll Poppea mit einem Tuch erdrosselt werden, aber nachträglich spricht Arnalta von einem Dolch oder Schwert.
Die Sänger waren durchweg sehr gut, wenn nicht sogar hervorragend. So waren die beiden Protagonisten, Poppea (Hana Blažiková) und Nerone (Kangmin Justin Kim) ausgezeichnete Sänger, in der Stimme durchaus gleichwertig und passend (was vor allem im Schlussduett zum Tragen kam), Kim ist auch ein starkes, glaubwürdiges Schauspieltalent, vor allem im Zorn. Beide wurden stimmlich jedoch überschattet von Marianna Pizzolato als Ottavia, mehr noch vom mächtigen Bass von Gianluca Buratto als Seneca. Gesangstechnisch am anspruchsvollsten sind die Koloraturen im Duett von Nerone und Lucano (Zachary Wilder). Für letzteren ist das der einzige Auftritt – leider sängerisch nicht ganz überzeugend. Ausgezeichnet hingegen im Gesang Drusilla (Anna Dennis) und Ottone (Carlo Vistoli), sowie Silvia Frigato in der Rolle des Amore. Vom Monteverdi Choir kamen nur die Männer zweimal zum Zug: als Jünger Senecas, sowie fast am Schluss als Chor der Konsuln und Tribunen. Letzterem fehlte der Aspekt der Ironie, des Spotts fast gänzlich.