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Auf Eroberungsfahrt: Seong-Jin Cho beim Tonhalle-Orchester Zürich

Von , 12 Mai 2025

Als Sergej Prokofjew 1913 sein Zweites Klavierkonzert vollendet hatte, war der russische Komponist gerade mal 22 Jahre alt. Bei der Aufführung des Werks in der Tonhalle Zürich gehörte die Bühne ebenfalls den Jungen. Solist war der 30-jährige südkoreanische Pianist Seong-Jin Cho, als Dirigent wirkte der 39-jährige Finne Santtu-Matias Rouvali – beide zum ersten Mal beim Tonhalle-Orchester Zürich. Für das Publikum bot sich da eine doppelte Entdeckung, zumal die beiden Künstler musikalisch sehr gut miteinander harmonierten.

Seong-Jin Cho
© Christoph Köstlin | DG

Wenn ein Pianist beim Internationalen Chopin-Wettbewerb den ersten Preis gewinnt, liegt ihm die Klassik-Welt anschließend zu Füßen. So war es auch bei Seong-Jin Cho, nachdem ihm 2015 dieses Kunststück gelungen war. Er konnte einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon abschließen und erobert inzwischen die westliche Musikwelt im Sturm. In der laufenden Saison ist er, ganz unbescheiden, Artist in Residence bei den Berliner Philharmonikern.

Als Musiker ist Cho indes kein Aufschneider, sondern zeichnet sich durch einen ehrlichen, ja fast introvertierten Charakter aus. Beim Spielen sitzt er leicht vornübergebeugt da und scheint nur mit sich selbst Zwiesprache zu halten. Doch er ist hellwach und reagiert auf alles, was um ihn herum im Orchester geschieht. Was die technischen Anforderungen betrifft, scheint er keine Grenzen zu kennen. Immerhin gilt Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2 in g-Moll innerhalb der Gattung als eines der virtuosesten, das sogar der Komponist selber nicht fehlerfrei hingekriegt haben soll.

Ob die ursprüngliche Fassung des Klavierkonzerts noch wilder gewesen ist als die heute bekannte zweite Fassung von 1923, kann man nicht mehr beurteilen, da die originale Partitur bei einem Brand im Gefolge der Russischen Revolution vernichtet wurde. Aber auch in dieser von Prokofjew rekonstruierten Fassung ist noch viel vom unbändigen Charakter des jungen Komponisten zu spüren. Und Cho setzt alles daran, diesen Charakter ins helle Rampenlicht zu stellen. Im ersten Satz, Andantino – Allegretto, hält er sich anfangs noch zurück, steuert dann im schnellen Teil mit unaufhaltsamem Drive auf die Solokadenz hin. Diese gestaltet er als wahren Klangrausch, und wenn danach das Orchester wieder einsetzt, ist das Geschehen außer Rand und Band geraten.

Ein Mangel der Komposition besteht darin, dass sie, trotz unüblicher Viersätzigkeit, keinen langsamen Satz aufweist. Das kurze Scherzo kommt in der Interpretation ganz spielerisch daher, beim Intermezzo stehen sich das laute Stapfen des Orchesters und die luftigen Interpolationen des Solisten unversöhnlich gegenüber. Ein ansatzweises lyrisches Moment breitet sich ausgerechnet zu Beginn des Finales, Allegro tempestoso, aus. Der Sturm kommt dann aber doch noch und entfacht zum Schluss einen symphonischen Flächenbrand. Rückblickend muss man feststellen, dass es die Aufgabe des Dirigenten gewesen wäre, die verschiedenen Erregtheitsgrade der Komposition etwas deutlicher abzustufen und die ruhigen Episoden noch entspannter anzugehen.

Santtu-Matias Rouvali malt gerne mit dem großen Pinsel. Das zeigt sich nach der Pause in Tschaikowskys Symphonie Nr. 6 in h-Moll, der berühmten „Pathétique“. Mit Ganzkörpereinsatz, rudernden Arm- und tanzartigen Beinbewegungen motiviert er das Tonhalle-Orchester zu extravertiertem und rhythmisch forciertem Spiel. Alle vier Sätze interpretiert der Dirigent aus ihrer Gegensätzlichkeit heraus. Als Beispiel könnte man etwa im Kopfsatz den wild dreinfahrenden Beginn der Durchführung nach dem beruhigend ausfädelnden Schluss der Exposition nennen. Tänzerisch-duftend klingt das Allegro con grazia mit seinem charakteristischen 5/4-Takt, raffinierte Steigerungsmomente erfährt das militärisch zugespitzte Scherzo, in abgründiger Depression endet, nach einem letzten pathetisch inszenierten Aufbäumen, der Schlusssatz. Insgesamt alles dick aufgetragen, voll ausgekostet und ins Extreme ausgereizt – die Vorrechte der Jugend halt.

****1
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“was die technischen Anforderungen betrifft, scheint Seong-Jin Cho keine Grenzen zu kennen”
Rezensierte Veranstaltung: Tonhalle: Grosser Saal, Zürich, am 10 Mai 2025
Prokofjew, Klavierkonzert Nr. 2 in g-Moll, Op.16
Tschaikowsky, Symphonie Nr. 6 in h-Moll, "Pathetique", Op.74
Tonhalle-Orchester Zürich
Santtu-Matias Rouvali, Musikalische Leitung
Seong-Jin Cho, Klavier
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