Viele Werke vergessener oder selbst bekannterer Komponisten fristen in Archiven und Bibliotheken ihren Dornröschenschlaf, auch wenn seit Jahrzehnten immer mehr Raritäten zu Tage gefördert werden, die Spezialisten und Fans gleichermaßen dankbar aufnehmen, um Ensemble, Gesangsstars und Komponist in angrenzend historischem Ausmaße in Szene zu setzen. Dann werden Fundstücke offenbart, die neben einer interessanten Künstler- und Entstehungsgeschichte die Frage aufwerfen, warum sie schlussendlich von der musikalischen Bühne verschwunden sind.
Ein solches Relikt der Blütezeit reicher neapolitanischer Opernrezeption wurde nun mit Giovanni Battista Bononcinis Camilla beim 40. Jubiläum der Tage Alter Musik Herne präsentiert, wofür Jörg Jacobi, der Cembalist des Elbipolis Barockorchesters, die 1706 erstmals in London gespielte englische Version rekonstruierte, für deren Partitur-Bearbeitung in England der Cellist und spätere Händel-Librettist Nicola Haym verantwortlich zeichnete.
In Italien, vor allem aber in England sollte diese Oper nämlich den Klassiker schlechthin darstellen und aufgrund des Erfolgs Vorbild für nach und nach ausgegrabene Meister-Zeitgenossen wie Porpora, Leo oder Vinci sein. Obwohl stilistisch vom Librettisten Silvio Stampiglia und Bononcini selbst als veraltet angesehen, trat die Oper einen Siegeszug durch Europa an. Es gibt Erklärungsversuche: zum einen rühmt Benedetto Marcello den hoch angesehenen Komponistenkollegen für seine „melodisch humid und dolce, in textlicher Einbindung adäquat, exakt und übereinstimmend ausgearbeiteten Arien mit feinem Geschmack der Seele“. Außerdem dürfte er an der für den Zuhörer angenehmen Kürze der einzelnen Szenen gelegen haben, aber auch an der Übersetzung. Oder liegt es am banalen Libretto?
Inhaltlich geht es um die königliche Feldherrin der Volsker, Camilla, die mit List und Verstellung gegen die latinische Besatzung kämpft. Vor dem typischen lieto fine aus lieblicher und politischer Glückseligkeit bilden abstruse Geschichten mit Beziehungsgeflechten der verfeindeten höfischen Personengruppen, ihren unvermeidlichen Gefühlsregungen (Eifersucht, Rache, Todesdrohungen, Liebe) und rasanten Wendungen, die an komisch-parodistischer Naivität kaum zu überbieten sind, die Handlung der Oper. Stampiglia selbst fasste sie lapidar wie spöttisch so zusammen: „Viele Geschichten und Vergils Aeneis, der Rest ist frei erfunden.“
Ein wirklicher Hit sollte es für mich trotz der musikalischen Rühmungen aber nicht sein, womit sich subjektiv die Frage nach der Vergessenheit beantwortet. Die Aussage eines treuen, anonymen Besuchers der Londoner Aufführungen kann ich daher eher nachvollziehen. „Sie gefiel mir aus lieber Gewohnheit, dabei übersteigt kaum eine der Arien das Niveau einer Ballade.“
Diese waren durch einfache Musik oder Ausformungen bestimmt, die fast einfältig erschienen. In den Rezitative und Arien verbindenden Ariosi zeigte sich eher die immanente Gefahr der galanten Eintönigkeit. Abgesehen von „Joys are attending“ mit obligater Oboe, bei der am ehesten von einem (an Purcell erinnernden) gelungenen Beispiel für den Angleich gesprochen werden kann, und Tullias zweiter, einem kecken italienischen Klassiker nahekommenden Arie im zweiten Akt wird die Orchestrierung vornehmlich im dritten Akt etwas dramatischer und ausgeformter, so dass sich wie in „Anger's gor War declaring“ Bononcinis beschriebene Stärke zeigt.