Nur selten erlebt man eine klassische Musikverantaltung, die gleichzeitig Theater, Konzert, und vor allem ein immens bewegendes Drama ist. In Zusammenarbeit mit Peter Sellars, gelang es den Berliner Philharmonikern, Solisten und Chor, die theatralische Vorstellung der Matthäuspassion Berlins auch als Teil des White Light Festival des Lincoln Centres in New York zu wiederholen.
Eine kleine Bühne ist im Saalzentrum aufgebaut, umringt von etwa 15 steilen Stuhlreihen, die von fast jedem Sitzplatz eine ausgezeichnete Sicht ermöglichen. Das ganz in schwarz gekleidete Orchester ist in zwei Gruppen unterteilt, ebenso der gleichermaßen gekleidete Chor. In der ersten Hälfte ist auch der Knabenchor zu hören, dessen Mitglieder zumeist von hoch über der Bühne singen und sich bisweilen energisch durch das Publikum bewegen. Aufgrund der Größe des Saales werden die Sänger (allerdings sehr diskret) mit Mikrophonen verstärkt. Sir Simon Rattle dirigiert zumeist von seinem Podium vor einem der Orchester aus, und leitet gelegentlich auch vor dem anderen. Wenn die Gesangssolisten von Soloinstrumentalisten begleitet werden, beobachtet er oft, ohne seine Konzentration zu verlieren.
Beim Betreten des Saales kann das Publikum eine einzelne Person auf der Bühne sehen – den Tenor Mark Padmore – und ein paar Holzkisten, die als einzige Requisite dienen. Padmore sitzt alleine auf einer der Kisten, seine Haltung verrät ungeheure Traurigkeit und Niedergeschlagenheit noch bevor die Musik beginnt. Seine stille Präsenz setzt die Grundstimmung der Vorstellung fest, die ein Sinnen über die menschliche Existenz mit all ihrem Elend, ihrer Grausamkeit, ihrem Mitgefühl und schließlich Erlösung ist. Bachs musikalisches Meisterwerk bekommt eine neue, unerwartete Perspektive , die manches Mal über hren ursprünglichen, religiösen Text hinauszugehen scheint, doch ihrer musikalischen Basis treu bleibt. Dies ist ein superbes Beispiel eines klassischen Wesens, dessen moderne Interpretation allgemeingültig in ihrer Botschaft ist, wenngleich sie ein bestimmtes biblisches Ereignis abbildet.
Die Spannung und Vorfreude im Publikum war so groß, dass es beinahe eine Erleichterung war, als die Musiker ihre Plätze einnahmen und Bachs vertraute Musik begann. Sie wechselt nahtlos von Chor zu Choral zu Rezitativ, dann zurück zum Chor, durchsetzt von Arien, die von Solisten in den Rollen von Jesus, Maria Magdalena, Judas, Petrus oder Pontius Pilatus gesungen werden. Es gab eine beträchtliche Menge an Schauspiel, sowohl stimmlich als auch körperlich, von den Solisten als und auch dem Chor, wobei die Chormitglieder als Kommentatoren der Geschehnisse wie auch als Handelnde darin agierten, als aufgebrachte Menschenmenge, oder als Zeugen der Brutalität gegenüber Jesus. Am Ende der Vorstellung gab es keine Erleichterung, nur stille Resignation. Als die Chorsänger die Solisten umringten und sich um eine lange Kiste versammelten, die Jesus‘ Sarg sein könnte, schienen einige wirklich angegriffen von der Trauer der Musik, die sie den ganzen Abend gesungen haben. Die letzten Stücke wurden im fast völlig dunklen Saal gespielt, in dem nur die Bühne beleuchtet war. Das Publikum verharrte in langer, respektvoller Stille, als die Musik verklungen war; erst, als Rattle seine Arme sinken ließ, wurde applaudiert. Wie schon am Ende des ersten und letzten Aktes von Wagners Parsifal hätte ich es auch hier schön gefunden, wenn diese respektvolle Stille noch viel länger angehalten hätte.