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Femizid! Eine neue kontroverse Carmen von Lotte de Beer an der Volksoper

Von , 07 Oktober 2024

1979 war die französische Philosophin Catherine Clément eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die beunruhigende Tendenzen in der Oper aufzeigte und darauf hinwies, wie viele Frauen – die Rollen, nicht die Sängerinnen – in unseren Lieblingswerken ermordet, verfolgt oder missbraucht werden. Carmen ist das bekannteste Beispiel. George Bizets musikalische Nacherzählung der Novelle von Prosper Mérimée aus dem Jahr 1875 ist nicht nur eine durchgehend fesselnde Geschichte über Eifersucht, Verführung und Mord, sondern auch vollgepackt mit musikalischen Leckerbissen. Heute, wo Carmen zum festen Repertoire gehört, kann man leicht übersehen, dass das Werk seinerzeit so schockierend war, dass einer der Auftraggeber, Adolphe de Leuven, noch vor der Premiere in Paris von seinem Posten an der Opéra-Comique zurücktrat.

Katia Ledoux (Carmen) und Chor
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Lotte de Beers Neuinszenierung an der Volksoper erneuert auf pointierte Weise ein geliebtes Werk, das sich im Laufe der Zeit in der Aufführungspraxis konventionalisiert hat. Sie durchbricht die vierte Wand, bricht mit Besetzungs- und Ästhetiknormen und hält dem Publikum, das begeistert darauf wartet, eine Frau auf der Bühne ermordet zu sehen, den Spiegel vor. Unabhängig davon, ob die Kunst das Leben oder das Leben die Kunst imitiert, scheint sie zu fragen, was wir hier eigentlich alle tun.

Schon bei der Ankündigung vor Beginn des Stücks ist das Spiel in vollem Gange: eine freundliche, körperlose Stimme (De Beer) erklärt, dass die Inszenierung angepasst wurde, weil das Rauchen auf der Bühne nicht mehr erlaubt ist. Glücklicherweise, so die Ansage weiter, ist die Darstellung von Femizid weiterhin erlaubt. Und während der Großteil der Darsteller - Soldaten, Zigarettenmädchen und Stierkämpfer - die ihnen zugewiesenen Rollen pflichtbewusst spielen, ist diese Carmen von Anfang an damit beschäftigt, die schmutzige Schattenseite des Märchens kompromisslos zu entlarven. Sie rollt mit den Augen, wenn Escamillio (Josef Wagner) nach seiner Eröffnungsarie von schmachtenden, aufreizenden Frauen umschwärmt wird, wirbelt Kulissen herum und wirft Requisiten beiseite, um sie als Kulissen zu enthüllen (Design: Christof Hetzers), zieht Vorhänge zurück, um das Theaterpublikum dahinter zu zeigen, und bringt dem Kinderchor das Rauchen bei.

Katia Ledoux (Carmen) und Ensemble
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Es gibt einen bestimmten Körper- und Kostümtyp, der fast sofort als Carmen erkennbar ist, so etwas wie „sexy Zigeunerin“, ein Halloween-Kostüm, das in den 1990er Jahren auf Partys von Studentenverbindungen beliebt war. Carmen wird im Allgemeinen als vage südländisch dargestellt: langes, dunkles Haar, Schmollmund, Korsett, triefend vor Sex, ein Überbleibsel des Exotismus des 19. Jahrhunderts. Gesanglich sollen die Carmens das tiefe, polierte Mezzosopran-Timbre zur Schau stellen, das in der romantischen Oper mit wissender Sinnlichkeit gleichgesetzt wird. De Beers Carmen, umwerfend dargeboten von Katia Ledoux, ist von vornherein anders. Nach dem Vorspiel entledigt sie sich ihrer Arbeitskleidung (Kostüme von Jorine van Beek) und verbringt den größten Teil der Oper in einem unverblümten, weiten schwarzen Jumpsuit, kurzen Locken und einer unnachgiebigen Haltung. Anstatt vor Sex zu triefen, sprüht sie vor Charisma, kompromisslosem Selbstbewusstsein und Stärke.

Katia Ledoux (Carmen) und Chor
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Stimmlich hatte Ledoux Kraft und Umfang, aber auch ein hohes Maß an Flexibilität und Wendigkeit in ihrem Instrument, aber auch eine gewisse Weite in ihrem Klang, der zugänglicher und menschlicher wirkte als bei einer durchschnittlichen Carmen. Ihre Carmen ist nicht nur fesselnd, sondern auch klug – und sie erkennt ihr Schicksal, lange bevor Don José (Tomislav Mužek) sein Messer in sie stößt und erkennt, dass nicht nur er sie zum Tode verurteilt hat, sondern dass ihr Tod genau das ist, wonach das Opernpublikum verlangt. Nachdem Micaëla (das tugendhafte, weiße, katholische Mädchen) bejubelt und beklatscht worden ist, versammelt sich der Chor der Opernbesucher um eine Bühne in der Bühne und singt die Reprise des Toreros nicht etwa, während sie den Stierkampf beobachten, sondern während sie Carmen aktiv an der Flucht hindern, was ihre gewaltsame Ermordung nur noch abstoßender macht. 

Tomislav Mužek (Don José), Alexander Fritze (Zuniga) und Ensemble
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Während die Besetzung ansonsten respektabel, wenn auch vergleichsweise wenig überzeugend war, trug Ledoux die Inszenierung und war die einzige Figur – stimmlich oder dramatisch –, die dreidimensional gezeichnet war. Während Don Josés Werdegang oft im Mittelpunkt steht, fühlen sich hier alle anderen neben der Titelrolle wie Stockfiguren an. Der zweite Held des Abends war Ben Glassberg, der das Volksopernorchester mit knackiger Eleganz und Stil durch die Partitur von Bizet führte.

Katia Ledoux (Carmen) und Tomislav Mužek (Don José)
© Barbara Pálffy | Volksoper Wien

Bizets Oper ist so allgegenwärtig, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihr Publikum oder ihre Kritiker zu schockieren oder gar zu bewegen. De Beers Inszenierung tut beides mit Klarheit, Stil und ohne auf Effekthascherei zu setzen. In einem Land mit einer der schlimmsten Femizidraten in der EU ist es vielleicht nicht die Carmen-Inszenierung, die Wien bevorzugt, aber es ist wahrscheinlich die, die es braucht. 

****1
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“es ist vielleicht nicht die Carmen, die Wien bevorzugt, aber es ist die, die es braucht”
Rezensierte Veranstaltung: Volksoper Wien, Wien, am 6 Oktober 2024
Bizet, Carmen
Volksoper Wien
Ben Glassberg, Musikalische Leitung
Lotte de Beer, Regie
Christof Hetzer, Bühnenbild
Jorine van Beek, Kostüme
Alex Brok, Licht
Orchester der Volksoper Wien
Wiener Volksopernchor
Katia Ledoux, Carmen
Tomislav Mužek, Don José
Josef Wagner, Escamillo
Iulia Maria Dan, Micaëla
Alexander Fritze, Zuniga
Michael Arivony, Moralès
Alexandra Flood, Frasquita
Sofia Vinnik, Mercédès
Karl-Michael Ebner, Le Remendado
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