Könnte man es nicht als eine Art Kompliment an die Welt der Oper betrachten, dass Konzertprogramme nun zunehmend auch Arien beinhalten, die oft verschmähten Auszüge (im Englischen gerne „bleeding chunks“ genannt), vollständige Akte oder in der Tat ganze, konzertant aufgeführte Werke? Abgesehen davon, dass die dritte Leonoren-Ouvertüre (vom selben Komponisten!) in das Gewebe von Fidelio eingearbeitet wurde, gibt es schließlich sehr wenige Beispiele vom umgekehrten Vorgehen.
Wie dem auch sei, es gibt sicherlich ein Argument dafür, einen gesamten Akt zu geben, wenn, wie im ersten Akt der Walküre, das packende Drama der Narrative mit einer Musik unterlegt ist, die Atmosphäre, Elektrizität und Sinnlichkeit ausstrahlt. Es ist jedoch keine gute Idee, die Wagner’schen Götter zu erzürnen, besonders, wenn man ein bloßer Sterblicher ist, und was ursprünglich als verlockender Lückenbüßer zwischen der Geschichte von Siegmund und Sieglinde und dem späteren Tode Siegfrieds angekündigt worden war – Sofia Gubaidulinas neu in Auftrag gegebenes Der Zorn Gottes – musste aufgrund einer Erkrankung der Komponistin leider gestrichen werden.
Stattdessen gab es weitere Arien aus der Götterdämmerung, sodass die wachsende Leidenschaft der Walküre zwischen den Zwillingen, die einem Zusammentreffen Wotans mit einer sterblichen Frau entstammen, ziemlich schnell zum Tode führte, und nicht nur dem des Helden, den die beiden letztlich zeugten – vom Helden zum Nichts in wenigen Schritten, sozusagen – sondern auch dem von Wotans liebster Tochter.
Es gibt wenige reine Orchesterstürme, die so packend sind wie der, der Die Walküre eröffnet. Nichtsdestotrotz konzentrierte sich Christian Thielemanns Dirigat der Staatskapelle Dresden (deren Mitglieder zur Hälfte regelmäßig im Rahmen der Bayreuther Festspielsaison spielen) weniger auf die Wildheit des Klanges, die entfesselt werden kann, sondern auf ein Gefühl von Unbehagen, das sich durch diese anfänglichen Streicherfigurationen zieht, und ließ keinen Zweifel daran, dass dieses größte aller musikalischen Dramen für alle Protagonisten schlecht ausgehen wird. Bei Thielemann wird man immer gewahr, wie der Klang in einer starken Basslinie geerdet ist, die die individuellen Fäden des orchestralen Gewebes stützt. Es hilft, wenn man ein Streicherregister zur Verfügung hat, das so warm und üppig ist wie das des Dresdner Orchesters und sich wie ein Gepard durch die Steppe bewegt, und Celli und Bässe, die im Schein einer mahagonigleichen Fülle baden. Man mag erwartet haben, dass dem Musizieren eine typisch deutsche Schwere anhaftet, doch zu hören war eine überraschende Durchlässigkeit der Texturen und, zweifelsohne von der kristallenen Akustik der Elbphilharmonie unterstützt, eine kammermusikalische Feinheit in allem unterhalb eines Mezzoforte. Wie nie zuvor wurde mir die Schuld bewusst, in der sich Debussy gegenüber Wagner sah: wieder und wieder zeigte Thielemann das Prinzip des musikalischen Pointillismus. Doch wenn es darauf ankam, wie in der orgiastischen Klimax am Ende des ersten Aktes, stand er mit großem Knüppel bereit – Macht mit Verantwortung. Erfahrene Operndirigenten wissen immer, wann man zum entscheidenden Schlag ausholen muss.