Was für ein Schlussakkord! Nach etwa fünfzehn Minuten lässt Marco Goecke den einzigen auf der Bühne verbliebenen Tänzer langsam nach hinten schreiten, bis ihn das Bühnendunkel verschluckt. Hier tritt einer ab. Das konnte man durchaus als persönliches Statement deuten, denn Goecke, den Stuttgarts Ballettdirektor Reid Anderson 2005 zum Hauschoreographen nach Stuttgart berufen hatte, wird unter dem künftigen Direktor Tamas Detrich diese Funktion nicht mehr ausüben.
Inzwischen wurde er zum Ballettchef in Hannover gekürt und es schien als habe der Choreograph, der mit seinen nervös flatternden Bewegungen aller Körperteile einen ganz eigenen Stil kreiert hat, bei der Arbeit an seinem neuen Stück Almost Blue an diese neue Situation gedacht und sein eigenes Tun reflektiert, denn über allem liegt hier ein Hauch von Melancholie, ein wenig vom Geist Marcel Prousts. Zwar gibt es immer noch die typischen Goeckeschen zuckenden Bewegungen, doch erstarren sie nicht selten, als reflektiere hier jemand, was er bisher getan hat. Klassische Körperfiguren schleichen sich ein, werden auf Goeckesche Art gebrochen, sind aber unverkennbar vorhanden. Doch gerade wenn man meint, hier habe einer Abschied genommen, lässt Goecke den Tanz noch einmal furios aufflammen, er lässt die Tänzer zu Musik aus einem Livekonzert zurückkommen, der Tanz geht weiter. Am Ende des Songmedleys braust aus dem Lautsprecher der Beifalls des damaligen Konzertpublikums – der sich in Stuttgart fortsetzte in einem Regen von Blumensträußen aus dem Publikum und lang anhaltenden Standing Ovations.
Auch Katarzyna Kozielska ließ sich von ihrer Biographie inspirieren. Sie habe als junge Tänzerin, so gesteht sie im Programmheft, in dem jeder der fünf Choreographen des Abends sich zu seinem neuen Stück äußert, die Erste Solistin unendlich bewundert, und so bringt sie eine augenzwinkernde Hommage an diese Spezies in der Welt des Balletts, sinnigerweise getanzt von einer der Ersten Solistinnen in Stuttgart, Alicia Amatriain. Die Männer sind in Take Your Pleasure Seriously dazu degradiert, die Königin auf der Bühne zu hofieren, in höchste Höhen zu tragen, und sie lässt es huldvoll und mit einem Hauch von Selbstironie geschehen. So ist ein tänzerischer Kommentar entstanden zum Verhältnis von Solisten und Corps de ballet, in dem die Stars mit komplexeren Schritten den tänzerischen Ton angeben, dem die übrigen etwas reduzierter folgen. Wenn dann in hellweißem Licht wie in einer Vision ein nahezu klassischer Pas de deux folgt, mag man das als Hinweis auf die künftige Karriere der Künstlerin deuten, die nur noch als Choreographin arbeiten wird.
Alle fünf Stücke des Abends sind inspiriert von der Realität. Louis Stiens bringt gleich ein ganzes Potpourri von Reminiszenzen tänzerisch überhöht auf die Bühne, die ihn offenbar seit langem verfolgen. Das beginnt mit einem stilisierten Auftauchen von nixenähnlichen Wesen, die zum Geräusch von dröhnender Meeresbrandung wie aus dem Nichts auftauchen wie in einem Hollywoodfilm der 30er Jahre. Es folgen Erinnerungen an das Kino mit stilisierten angedeuteten Boxkämpfen, an amerikanische Sportveranstaltungen mit Cheerleaderposen und schließlich den in der Fitnesswelt bekannten Aerobictanzschritten bis zur Erschöpfung mit dem erklärten Ziel, körperliche Idealform zu finden, Skinny zu werden. Das ist witzig. Stiens erfindet zu hämmernder elektronischer Musik eine Vielzahl an überraschenden Bewegungen, doch mangelt es dem Stück an dramaturgischer Stringenz, sodass es immer wieder zur Beliebigkeit tendiert.