Georges Bizets Carmen als Uraufführung anzukündigen, wie es jetzt die Staatsoper Hannover tut, die im Oktober Premiere hatte und nun nach einer Aufführung ohne Publikum als Stream bis Mai 2021 im Internet abrufbar ist, mag kühn erscheinen, doch in diesem Fall hat es durchaus seine Berechtigung. Zwar ist alles da, was wir an dieser Oper lieben – die Ohrwürmer Habanera, Seguidilla, Don Josés schwärmerische Liebeserklärung an Carmen, das auftrumpfende Torerolied des Escamillo –, doch schon der Anfang ist ungewohnt verhalten. Nicht die den Opernbesucher mit voller Orchestrierung in die Stierkampfatmosphäre hineinkatapultierende Musik, sondern zunächst leise im Raum entstehende Klänge, die ganz allmählich in musikalisch vertraute Bereiche münden, bis schließlich Bizets Oper mit der Anfangsszene vor der Zigarettenfabrik von Sevilla einsetzt.
Der Komponist Marius Felix Lange hat nicht nur Bizets Partitur coronabedingt auf ein stark reduziertes Orchester zurechtinstrumentiert, er hat dem Instrumentarium noch Röhrenklänge und Marimbaphon hinzugefügt und so den Klang ins 20. Jahrhundert überführt, vor allem hat er besonders im ersten Drittel der Oper immer wieder eigene Kompositionsteile eingefügt, Klänge, die das Vertraute aufbrechen, die Unsicherheit evozieren, musikalische Fragezeichen aufwerfen. Man muss so etwas nicht mögen, aber er hat es derart subtil und feinfühlend getan, dass die Oper auf diese Weise eine neue Ebene erhält, eine Ebene, die die Unsicherheit vor allem der männlichen Hauptfigur musikalisch und damit auch psychisch nachvollziehbar für jeden Zuhörer macht. Dieser Don José, aus seiner ländlichen Heimat in die Großstadt Sevilla gelangt, ist sich seiner Stellung in dieser Welt nicht sicher, und er wird es, vor allem wenn er der Verführerin Carmen folgend in die Sphäre von Schmugglern gerät, immer weniger.
Wohin er eigentlich gehört, macht die Oper mit der jungen Micaëla deutlich, die versucht, ihn zu seiner Mutter zurückzuholen – Barno Ismatullaeva gestaltete diesen Part mit betörend schönem Sopran, schlicht eingesetzt, wie es sich für ein Mädchen vom Lande gehört, eindringlich in ihrem echt empfundenen Gefühl für José. Komponist Lange verstärkt das noch, indem er den jungen Mann ein Lied in der Sprache seiner baskischen Heimat singen lässt. Hier hätte er allerdings auf die modernen Begleitklänge verzichten sollen, wie er es im Fall von Carmen getan hat, die gleichfalls ein Lied aus ihrer Heimat intoniert. Rodrigo Porras Garulo fand in dieser volkstümlichen Einlage zu schlichten Tönen, die sich abheben von den emotional aufgeheizten, die die Rolle des verliebten und ins Unglück gleitenden José von ihm verlangen und denen er voll gerecht wird.
Szenisch ist das Ganze angesiedelt in einer Art Arena – passend zum Stierkampfambiente von Bizet, allerdings einer eher zur Ruine verfallenen eines Sportstadions. Hier kann alles stattfinden, der Auftritt des Stierkämpfers Escamillo, den Germán Olvera mit herrlich lyrischem Bariton gestaltete, der dennoch der Rolle gemäß zu triumphalem vokalem Machogestus fähig ist, die Schmuggler, denen Carmen sich anschließt, und die Arien der Carmen, die hier als regelrechte Auftritte inszeniert sind.