Starke Bilder, eingängige Melodien, intensive Stimmungen – all dies kennzeichnet Jean Sibelius' Schauspielmusik zu Shakespeares Der Sturm. Als sein letztes Werk dieser Gattung wird ihm von vielen Seiten eine kompositorische Ausgereiftheit zugesprochen, die mit der in umliegenden Werken wie der Siebten Symphonie und Tapiola vergleichbar ist. In der Tat hat sich der Komponist beim Komponieren von Bühnenmusik immer wohl gefühlt.
Wie bei vielen anderen Werken wurde die Arbeit an der Schauspielmusik zu Der Sturm durch eine Anfrage seines dänischen Agenten und letztlich dem Kompositionsauftrag durch das Königliche Theater Kopenhagen angestoßen. Sibelius arbeitete wie besessen an der Partitur, und dennoch dauerte die kompositorische Arbeit bedeutend länger als zunächst angenommen – so viel länger, dass die Premiere des üppig inszenierten Theaterstücks der Musik wegen um ein halbes Jahr verschoben werden musste. Interessanterweise war Sibelius trotz der akribischen Arbeit an der Partitur nicht bei der Uraufführung anwesend, da er sich schon wieder neuen Aufgaben folgend auf Reisen befand.
Die Musik selbst besteht in der ursprünglichen Fassung aus 34 einzelnen Szenen. Sibelius selbst hat sie später zu zwei Orchestersuiten zusammengefasst und dabei radikal auf 19 Szenen gekürzt; so sollte die Musik dann als eigenständiges Orchesterwerk wirken können. Der Komponist wusste um die Kraft vieler seiner Melodien und plante, auf einige davon später in anderen Werken zurückzukommen, was jedoch bis auf wenige Anleihen nie geschah.
Shakespeares Stück dreht sich um den Streit zweier Brüder: Dem magisch begabten Prospero wird von seinem Bruder Antonio die Herzogenwürde von Mailand geraubt. Im Exil auf einer Insel nutzt Prospero seine magischen Fähigkeiten nicht nur, um sich den Luftgeist Ariel und das „Monstrum“ Caliban gefügig zu machen, sondern auch, um schließlich seine Feinde um Antonio bei einer Vorbeifahrt per Schiff festzusetzen und zu überwinden. Nach umfassender Rehabilitation entsagt Prospero den Zauberkünsten und plant die Rückkehr nach Mailand.
Das an einzelnen Geschichten und Strängen reiche Spiel bot Sibelius idealen Boden, um seine eigene, lebhafte Phantasie viele Male in ungezügelter Form spielen zu lassen. Das Bühnenstück gibt lediglich den Rahmen vor, in dem sich die Musik frei entfalten kann. So ist Sibelius' Musik enorm vielfältig, beschreibt bildhaft Situationen und Charaktere mit individueller Tonsprache. Sibelius hatte nie vor, das tatsächliche Schauspiel zu vertonen, und die Entscheidung für wenig Textgesang brachte Sibelius weitere Unabhängigkeit in seiner musikalischen Kreativität und der klingenden Beschreibung der Personen, die im Stück als allgemeine Metaphern menschlicher Existenz angelegt sind.
Die Ouvertüre, die später an Nummer 9 der ersten Suite gesetzt wurde, beschreibt den titelgebenden Sturm und Untergang des Schiffes, den Prospero erwirkt hat. Bildhaft und eindringlich zeichnet Sibelius das Unwetter und die große Gefahr. Er schickt die Streicher des Orchesters durch sich immer wiederholende Sekundläufe in die Wellen, während Bläser und Schlagwerk dramatisches Donnern und Heulen des Windes einwerfen. Die Musik ist ein Abbild der sturmgepeitschten See und durch ihre ständige Bewegung und nicht auszumachender Tonalität kann man als Hörer direkt die wilde See, die Bedrohlichkeit, Anspannung und Ruhelosigkeit dieser Situation miterleben.
Auch im Verlauf des Stückes zeichnet Sibelius die Szenen des Schauspiels plastisch nach: Nicht direkt offensichtlich, dann aber doch eindrucksvoll stellt der Komponist im Chor der Winde die Ruhe nach dem Sturm der Frage gegenüber, wie es nun weiter geht. Mit stillen Flöten, Harfe und breiten, harmonischen Streichern lässt Sibelius hier Entspannung zu und zeichnet die Szenerie mit weichen, impressionistischen Strichen.