Als ich im letzten Jahr Elīna Garančas Wigmore Hall-Recital besprochen habe, hat mich besonders ihre bemerkenswerte Haltung und Ruhe als Interpretin beeindruckt. Ihr Mezzo ist im Moment wahrscheinlich der schönste auf der Welt – samtig weich mit nur einem Hauch von Silber in der Höhe. Sie fühlt sich auf der Opernbühne in Mozart oder Belcanto-Rollen genauso zu Hause wie als Octavian oder Carmen. Im Januar habe ich ihre superbe Charlotte in Paris gesehen. Sie zählt zu der beträchtlichen Zahl an Letten in der Welt der klassischen Musik. In unserem Interview erklärt Garanča, warum so viele große Stimmen aus Lettland stammen, und wir sprechen über Schlüsselrollen, Gesangswettbewerbe und darüber, wie sich ihre Stimme entwickelt.
Sie stammen aus einer musikalischen Familie. Was waren Ihre ersten Schritte in den Bereich Oper? Wie haben Sie Ihre Stimme entdeckt?
Meinen ersten Opernbesuch machte ich mit sieben; eine ältere Freundin nahm mich mit in Wagners Tannhäuser. Wir sind nach dem ersten Aufzug gegangen! In meinem Umfeld gab es viel mehr Chor- und Liedrepertoire und Theater, darum wollte ich zunächst Schauspielerin werden. Oder Musicalstar! Die Bühne hat mich also immer angezogen. Aber ich bin durch die Prüfungen der Schauspielschule gefallen, und in Lettland gibt es keine wirkliche Ausbildungsstätte für Musical, also beschloss ich, es mit dem Singen zu versuchen – Oper, wie sich herausstellte.
Bei einer Bevölkerung von gerade zwei Millionen Menschen bringt Lettland einige ganz bemerkenswerte Musiker hervor. Wie erklären Sie sich das? Warum kommen so viele große Stimmen aus Lettland?
Ich glaube, das liegt zuerst einmal daran, dass wir eine tief verwurzelte Chortradition haben. In Lettland singt jeder. Wir haben ein riesiges Chorfestival, das seit 1873 alle vier oder fünf Jahre stattfindet. Um die 20.000 Leute kommen zusammen und singen; ganze Städte im ganzen Land leben das eine Woche lang. Außerdem ist unsere Sprache tief; sie kommt aus dem unteren Teil des Mundes und gibt der Stimme eine bestimmte Farbe und Kraft, und dann versuchen wir, sie italienischer zu machen, mehr Brillanz dazuzugeben. In meiner Generation wurde die musikalische Ausbildung sehr ernst genommen, selbst in Schulen, die keinen Musikschwerpunkt hatten, mit Pflichtbesuchen von Oper, Konzert und Theater. In dieser Zeit hatten wir nur zwei oder drei Fernsehkanäle, hauptsächlich über Russland, und Eltern mussten ihre Kinder beschäftigen, während sie bei der Arbeit waren, also sind Kinder nach der Schule in verschiedene Schauspiel-, Musik- und Kunstprogramme gegangen. Ein solches Programm, das viele von uns besucht haben, hieß „Kinderstube“ und ich glaube, dass das den heutigen Künstlern einen musikalischen Hintergrund gegeben hat, der sich deutlich von dem der Musiker aus anderen Ländern abhebt.
Im Dezember haben wir Ihr Recital in der Wigmore Hall rezensiert. Warum sind Lieder für Sie so wichtig? Und wie stellen Sie die Programme für Ihre Recitals zusammen?
Die Gattung Lied gibt mir die Möglichkeit, mit feineren Details zu arbeiten als in der Oper. Es ist auch ein sehr gutes Konditionstraining für die Stimme, weil man eineinhalb Stunden fast nonstop singt – es gibt üblicherweise keine Opernrolle, die so viel reines Singen fordert. Und da meine Mutter Liedsängerin war, bin ich damit aufgewachsen und einem Teil von mir liegt das Lied im Blut. Oft habe ich in der Vergangenheit eine Partitur aufgeschlagen und erkannte die Melodie, manchmal sogar den Text, sofort aus meiner Kindheit wieder. In der Oper streckt man quasi seine Hände zum Publikum aus, aber im Lied holt man das Publikum zu sich. Für mich ist das ein anderes Gefühl. Ich möchte flüsternd Geschichten erzählen können oder nur die Zeit haben, bestimmte Worte auszusprechen, die mit einem Orchester untergehen würden. Ich fange immer mit dem Text an. Ich muss den Text eines Liedes mögen und fühlen, und erst dann schaue ich mir die Melodie an. Ich nehme mir etwa ein halbes Jahr Zeit, um ein Recitalprogramm zusammenzustellen, das ich dann zwei oder drei Jahre lang singen werde.
Sie singen die Rolle der Charlotte nun seit einer Weile, jüngst in Paris. Was ist es an ihr, das Sie anspricht? Gibt es einen anderen Massenet, den Sie gerne probieren möchten?
Ich liebe Massenet, weil er es meiner Meinung nach wirklich versteht, die wärmsten und tiefsten Emotionen in einem Mezzo herauszuarbeiten, manchmal mit sehr wenigen Noten und zarter Orchestrierung. Im Allgemeinen finde ich, dass französische Musik – Gounod, Massenet, Saint-Saëns – das Beste in meiner Stimme zum Vorschein bringt. Charlotte singe ich nun schon seit über zehn Jahren. Mit der Zeit merke ich, dass der „mädchenhafte“ Teil der Rolle im ersten und zweiten Akt schwieriger wird, denn ich bin selbst reifer geworden. Aber das Schöne ist, dass diese Rolle einem gestattet, jede erdenkliche Erfahrung aus dem wahren Leben auszudrücken. Sie ist natürlich und kann auch im täglichen Leben bestehen.
Carmen war in den letzten Jahren eine Ihrer Schlüsselrollen. Wie hat Ihr Besuch in Spanien Ihre Interpretation beeinflusst bzw. verändert?
Als ich Carmen vorbereitet habe, sind mein Mann und ich nach Spanien gefahren, um das Land zu erkunden. Wir haben Zigeuner in Höhlen in Granada Flamenco tanzen sehen; auf dem Land bei Sevilla haben wir im Norden blonde Zigeuner getroffen und uns mit ihnen unterhalten; wir sind in Sevilla zum Stierkampf gegangen, um Stierkämpfer zu sehen. Mir ist aufgefallen, dass ein spanischer Zigeuner ganz anders ist als beispielsweise kaukasische Zigeuner; sie sind sehr stolze und introvertierte Menschen, die nur dann wie ein wildes Tier oder unkontrolliertes Feuer reagieren, wenn es wirklich notwendig ist. So hat sich meine Vision von Carmen auch verändert. Wenn man echten spanischen Flamenco sieht, sieht man auch diesen Stolz – gerader Rücken und eine unglaubliche, im Körper eingeschlossene Energie – man fühlt es, aber man sieht es nicht unmittelbar. Es ist nicht wie wildes italienisches Gestikulieren. Sie rufen und schreien nicht; es brennt in ihrem Inneren. Ihre dunklen – oder sogar blauen – Augen sehen einen so tief und durchdringend an, dass es einem den Atem verschlägt. Ich glaube, Carmen muss so viel mehr sein als ordinär sexy.