ENFRDEES
The classical music website

Musikalisch-Zeitiges Kontinuum: Pygmalion und Pichon mit Bach in Wien

Von , 25 November 2023

Nach Pygmalions Die Wege Bachs in letzter Saison ging die Auseinandersetzung von Raphaël Pichon mit Johann Sebastian Bach weiter. Jetzt also in leichter Abänderung zur detaillierteren Reise zu Bachs verzweigten Ahnen und Vorbildern mit Bach selbst und – unter der Gliederungsüberschrift „Zeit und Ewigkeit“ – natürlich seinen Kantaten als täglich Brot im Mittelpunkt. Begleitet von lediglich einem Werk einer familiären Inspirationsquelle, diesmal wieder der größten darunter: Johann Christoph. Dergestalt konzipiert und mit dem Fakt im Hinterkopf, dass Pichon bereits früher ein ganzes Kantatenkonvolut in tatsächlich lebenslanger Hinwendung aufführte, fungierte sie einerseits als Nachweis vorheriger Beschäftigung, andererseits als Zielannäherung zur eigenen Wegkomplettierung. Eben als Erfüllung eines Kontinuums von „Zeit und Ewigkeit“. An diesem Abend im Wiener Konzerthaus.

Raphaël Pichon
© Julia Wesely

Unter damals bereits gespielten Kantaten befand sich BWV25, die im jetzigen Tourprogramm zugegeben zu einer weiteren Dopplung – zuvor BWV4 und BWV106 – führte, als Pichon mit BWV110, BWV66, BWV80 und dem Weihnachts-Sanctus von 1724 (später der h-Moll-Messe) einen Zusammenschnitt der zeitigen und zeitlosen Festhöhepunkte im protestantischen Kirchenjahr erstellte. Statt diesen – wie ursprünglich als ewige Spule dramaturgisch verständlich geplant – von Weihnachten bis Weihnachten mit BWV25 dabei freilich als vorgezogenes Osterkontraststück (statt zum 14. Sonntag nach Trinitatis) chronologisch zu begehen, veränderte der Dirigent den Ablauf in mehrerlei Hinsicht. Damit muss man bei Pichon immer rechnen. Genauso wie mit schierer Theatralik in der Interpretation, mit der er Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe zu einem handfesten Dramma per musica weltlichen Bezeichnungscharakters machte, nachdem nun Johann Christophs Motette Mit Weinen hebt sich's an den Beginn eines appellgeladenen Konzerts markiert hatte. Recht ungewöhnlich für Pygmalion, fand der Chor darin noch keine gemeinsam exakten Taktanfänge, doch waren sie zusammen mit dann erwarteter und mitnehmender Pracht – instrumental manchmal die folgenden Solisten überdeckend – in ästhetischer wie deutlich expressiver Hingabestrenge in der Kantate vorhanden.

Raphaël Pichon dirigiert das Ensemble Pygmalion im Wiener Konzerthaus
© Julia Wesely

Mutet diese im Coro wie Bachs unglaublich erhebende Motette BWV118 an, gelangen Pichon am Abend wirklich die musikalischen Bögen und Linien in Sachen Rhythmus und damit „Zeit“ überragend. In Unser Mund sei voll Lachens setzte sich auf den ersten Teil Bachs Vierter Orchesterouvertüre in schnellem Grundtempo ein rasendes Double, dessen Sprint der Pygmalion-Chor unter mitreißender Einhaltung technischer Deklamations- und Diktionswucht knackig hinlegte. Und mit der ausgiebigen Freude so ins Ziel traf wie mit dem genialen Klangbild des Ensembles aus packender, gleichzeitig sauber-wohliger Wärme.

Lucile Richardot und Laurence Kilsby
© Julia Wesely

Laurence Kilsby konnte hier seine unfassbare Stärke von fruchtig-lieblicher, licht-durchdringender Ansprache entfalten, auch wenn sie fast mozartoperale Qualität aufwies. Stilistisch wesentlich besser passend klappte dies im „Ehre-sei-Gott-in-der-Höhe“-Duett mit der auch nicht allzu vibratozimperlichen, aber leuchtenden Maïlys de Villoutreys, als mit beiden im zurückgenommeneren „Friedenswunsch“ ein hellrosiger Weihnachtsstern aufging.

Maïlys de Villoutreys
© Julia Wesely

Diesen umgaben in den Arien Lucile Richardot mit ebenfalls sehr aufgeladener, resoluter Fülle und agil-staturübezeugender Tomáš Král, der in äßerst fixem „Wacht auf, ihr Adern und ihr Glieder“ mit Solotrompeter Mark Bennett eindeutig den Star des Abends an seiner Seite hatte. Bennetts absolut tadellose Klangpräsenz in allen technischen Aspekten überstrahlte so auch die Kantate Erfreut euch, ihr Herzen und die Merkwürdigkeit, dass Pichon – aus plötzlicher Zeitnot? – nur noch den Eröffnungschor anstimmte. Ein zweites voller Stolz eingeworfenes „Alleluja“ fiel somit aus. Äußerlich stimmig zur Auferstehung Jesu und schließlich zur lutherischen Hymnenkantate von Ein feste Burg ist unser Gott sowie innerlich zur bachfanatischen Passion erhob sich das Ensemble. Wählte Pichon in letzterer eine individuelle Besetzung mit drei Posaunen, präsentierten sich Chor, Orchester und Solisten (auch instrumental mit Oboist Jan Moisio und Cellist Antoine Touche) von stärkster, üppig-glaubenskräftiger, strotzender wie trotzender Seite. Trost und Würde zog dagegen das Duett „Wie selig sind doch die, die Gott im Munde tragen“ ein, welches überleiten sollte in ein himmlisch-entspanntes Sanctus, dessen flinke Festgirlanden im „Pleni sunt coeli“ das Konzerthaus schmückten wie die Weihnachtsdeko im innenstädtischen Wien.

****1
Über unsere Stern-Bewertung
Veranstaltung anzeigen
Rezensierte Veranstaltung: Konzerthaus: Großer Saal, Wien, am 23 November 2023
Bach, Unser Mund sei voll Lachens - Cantata, BWV110
Bach J.C., Mit Weinen hebt sich's an
Bach, Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe - Cantata, BWV25
Bach, Erfreut euch, ihr Herzen - Cantata, BWV66
Bach, Ein' feste Burg ist unser Gott - Kantate, BWV80
Bach, Mass in B minor, BWV232: Sanctus
Ensemble Pygmalion
Maïlys de Villoutreys, Sopran
Lucile Richardot, Mezzosopran
Laurence Kilsby, Tenor
Tomáš Král, Bass
Raphaël Pichon, Musikalische Leitung
Zwischen Rache und Vergebung: Zaide bei den Salzburger Festspielen
*****
Überragender Meilenstein: Monteverdis Marienvesper von Raphaël Pichon
*****
In seinem Element: Pygmalion mit Mendelssohns dramatischem Elias
****1
Überwältigendes Mozart-Requiem von Raphaël Pichons Pygmalion
*****
Nach Lübeck und viel weiter: Teil III von Pygmalions Die Wege Bachs
*****
Von Meistern selbst: Pygmalions zweiter Teil der Wege Bachs in Hamburg
*****
Weitere Kritiken...