Die erschütternden Schicksale zweier Frauen, beide überliefert aus mythischer Zeit und im Laufe der Geschichte in Musik immer wieder neu und bewegend erzählt. Unschuldig beide aus fatalem Irrtum: die (namenlose) Tochter Jephtes, des Heerführers der Israeliten, der um den Sieg zu erringen, seinem Gott gelobt, zum Dank das erste Wesen zu opfern, das ihm nach der Heimkehr begegnet – schrecklicherweise seine eigene Tochter. Und Dido, die Königin Karthagos, die sich eigentlich gegen ihren Willen auf eine Verbindung mit dem trojanischen Helden Aeneas einlässt, weil sie seinem Liebesschwur vertraut, der sie aber auf den vermeintlichen Befehl seiner Götter um einer höheren Mission willen verlässt.
Nur rund 40 Jahre trennen die Entstehung beider Werke: Giacomo Carissimis Historia di Jephte, eines der ersten Oratorien, bestimmt für die religiöse Andacht im kirchlichen Raum und Henry Purcells Dido and Aeneas, eine der frühesten Opern der Musikgeschichte, genuin für die Bühne geschrieben. Die Aufführung durch das Originalklang-Ensemble Il Pomo d'Oro und den Il Pomo d'Oro Choir unter der Leitung von Maxim Emelyanychev in der Elbphilharmonie machte sowohl die Verwandtschaft beider Werke wie auch deren Unterschiede wunderbar deutlich.
Emelyanychev dirigierte ungemein engagiert, modellierte die Klänge mit starker Gestik aus. Klangliche Schönheit, rhythmische Vitalität und höchst subtile Artikulation prägten durchweg die Musik. Lebendige Klangrede wurde in Chor und Orchester durchgängig zum Prinzip des Musizierens. Unterschiedlich war nur der Grad der Intensität der heraus gespielten Affekte. In Carissimis Oratorium herrschte bei aller musikalischen Rhetorik die gemessene Stimmung ernster Kontemplation vor. In Purcells Oper ließen sich die Musikerinnen und Musiker vom theatralen Impetus mitreißen. So wurden beide Interpretationen auf ihre Weise den jeweiligen Werken wunderbar gerecht.
Das Oratorium von Carissimi ist weitgehend chorisch besetzt, wobei Chorsolisten auch einzelne kurze Sequenzen übernehmen. Die Handlung wird in knapp 30 Minuten konzentriert erzählt. Neutraler Erzählbericht des sog. Historicus wechselt mit eher affektbetonten Solostellen von Jephte und seiner Tochter und wird ergänzt von kommentierenden Chorsätzen. In feiner Abstimmung gestalteten Chor, Orchester und die beiden Solisten Andrew Staples (Jephte) und Carlotta Colombo (Filia) die jeweiligen musikalischen Situationen, die Carissimi musikalisch bildhaft und tonmalerisch reich komponiert hat. Da gibt es im Chor ein Fugato aus schnellen Sechszehnteln auf das Wort „fugite”, das Klagen („plorate”) oder Weinen („lacrimate”) kam ebenso klangplastisch heraus wie das Jauchzen der Tochter, als sie in tanzendem Rhythmus ihrem siegreich heimkehrenden Vater entgegen eilt. Carlotta Colombos jugendlich klare Stimme war berührend in dieser Situation. Dagegen die Verzweiflung Jephtes beim Anblick der fröhlichen Tochter: Andrew Staples gestaltete hier den plötzlichen Umschwung nach Moll mit feinem Gefühl. Die in der Musik vermittelten Emotionen in Klang und Farbe waren sinnlich zu spüren. Der ergreifende Abschiedsgesang der Tochter und der abschließende Trauerchor, den Händel im Samson zitiert, ließ das Publikum nach dem Verklingen für einen kurzen Augenblick empathisch bewegt zurück.