Neue Wege ausloten und aufdecken, welche Brisanz klassische Opernstoffe in der heutigen Zeit entwickeln können. Das ist stetiges Anliegen der jungen italienischen Regisseurin Ilaria Lanzino, die an verschiedenen europäischen Opernhäusern aktiv ist und 2020 mit dem Ersten Platz im renommierten Europäischen Opernregie-Preis ausgezeichnet wurde. Am Staatstheater Nürnberg arbeitet sie nun bereits zum sechsten Mal, u.a. nach Donizettis L’elisir d’amore und Lucia di Lammermoor.
Mit La traviata (ital: die vom Weg Abgekommene) hielt Giuseppe Verdi 1853 auf dem Höhepunkt seiner Popularität seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor: zu sehen darin waren Doppelmoral und ein fragwürdiges Wertesystem. Für Lanzino bleibt Violetta nicht allein Kurtisane im 19. Jahrhundert. Sie wird eine verliebte junge, lebenslustige Frau, bis zu dem Moment, der ihr Leben verändert. Betrunken auf einer Party, wird sie von mehreren Männern missbraucht, gefilmt und ins Netz gestellt. Die Veröffentlichung dieses Videos setzt eine Dynamik in Gang, die sich nicht mehr stoppen lässt und unter der heute Mädchen bereits allzu oft zu leiden haben. Gesellschaftliche Ausgrenzung durch die Klassenschranken des 19. Jahrhunderts hat sich gewandelt zu den unbarmherzigen Strukturen eines World Wide Web, in den Shitstorms über Smartphones und digitaler Stigmatisierung.
Einmal viral, nie mehr vergessen. Violetta versucht, sich ihr Leben zurückzuerobern, hofft auf die Chancen eines unbeschwerten Lebens mit Alfredo Germont, eine neue Bindung mit einem intakten Familienkreis. Doch der Verlobte von Alfredos Schwester findet das Video, lehnt die Heirat ab, solange Violetta und Alfredo liiert sind. Vater Giorgio Germont, um das Familienglück besorgt, sucht Violetta auf und redet auf sie ein, die Verbindung mit Alfredo zu lösen; bietet ihr sogar Geld, mit dem sie ein neues Leben beginnen könne, was sie entrüstet ablehnt. Doch sie realisiert, dass gegen den Druck der Familie ihre Liaison keine Chance hat. Sie willigt in die Trennung ein, indem sie Alfredo schreibt, dass sie ihn aus Liebe verlässt, um seinem Glück nicht im Wege zu stehen. Erneuter Kontakt zu früheren Cliquen lassen sie dann verwahrlosen, vom hoffnungsvollen Weg abkommen.
Martin Hickmanns Bühne ist eine breite schwarze Treppe, die, wie auf Balkonen, Stationen für die einzelnen Bilder enthält. Sie bietet gleichzeitig Projektionsfläche für die belastenden Videosequenzen oder digitales Rauschen, das das Geschehen mit einer nichtssagend durchlaufenden Streifenoptik durchzieht und die Spielfläche wenig fantasieanregend macht. Mit der Liebesgeschichte im schäbigen Milieu eines sprayverschmierten Toilettenabteils wird man nicht warm. Wie ein Fremdkörper das hell erleuchtete, antiquierte Wohnzimmer der Germonts, in dem die Tochter mit dem Brautkleid posiert und die Mutter ebenfalls in geschäftiger, stummer Rolle agiert. In Carola Volles’ Kostümen, Tattoos und Haarmähnen spiegeln sich Modetrends der letzten Dekade. Mit dem überwiegend jungen Ensemble des Staatstheaters hat Lanzino intensiv am rasanten Move und eindeutiger Gestik gearbeitet: in die vordergründige Glitzerwelt von Diskotheken oder Dancefloors bringen sich auch Statisterie und die Sänger des Opernchores bewegungsstark und mit vokaler Verve ein.