Maria ist die wohl berühmteste Frau der Menschheit und inspirierte zahllose Gebete, Gesänge, Geschichten und Kunstwerke. Millionen Menschen tragen ihren Namen, Kirchen, Burgen, Städte und Inseln sind nach ihr bekannt. In Spanien, der Heimat des Regisseurs Calixto Bieito, herrscht ein regelrechter Marienkult. Dennoch ist nur wenig über Maria, die Mutter Gottes bekannt. Die Bibel erwähnt sie nur einige wenige Male und so bleibt ihr Leben und ihre Person ein Mysterium.
Claudio Monteverdi, der als „Erfinder“ der Gattung Oper gilt, komponierte neben seinen Bühnenwerken auch geistige Werke. Das Sakralwerk Vespro della Beata Vergine zählt zu den bekannteren des Œuvres Monteverdis. Es ist kein Oratorium, noch nicht einmal ein zusammenhängendes Werk, sondern diente bei seiner Fertigstellung um 1610 wohl als Bewerbung um ein Kirchenamt in Rom unter Papst Paul V.
Der Titel Marienvesper weist auf den liturgischen Charakter des Stücks hin und so enthält die Komposition Bestandteile des katholischen Abendgottesdienstes. Wie jede andere Vesper besteht auch diese aus einem sogenannten Invitatorium, fünf Psalmen, einem Hymnus und Magnificat. Es ist jedoch nicht überliefert, ob die Vesper ein zusammenhängendes Werk oder eher eine Auswahl unterschiedlicher repräsentativer Stile darstellen soll.
Statt des Versuchs einer Rekonstruktion und der Wiedergabe einer korrekten Verspernliturgie, entscheidet man sich in Mannheim für einen versöhnlichen Mittelweg. Durch das Einfügen von Antiphonen in Anlehnung an Monteverdis Hohelied-Texte wird das Sujet der Marienverehrung verbildlicht und theatralisch erfahrbar gemacht. So verschmelzen die Elemente der barocken Kirchenmusik mit den dramatischen Prinzipien der Oper.
Es als Loseblattsammlung zu betiteln wird der Marienvesper jedoch keinesfalls gerecht. Umso gewagter ist daher die Idee, es szenisch, gar als Oper oder dramatisches Bühnenstück, umzusetzen. Noch dazu mit Calixto Bieito, einem Regisseur, der für seine radikalen, teils schockierenden Regietheater-Ideen bekannt ist.
Bieitos Kindheit und sein Leben in einen spanischen, katholisch geprägten Dorf wird zur Initialzündung für die Mannheimer Inszenierung. Das Dorf wird zum Mikrokosmos in dem sich alles abspielt und in dem die unterschiedlichsten Personen vertreten sind. Besonders in den Mittelpunkt werden jedoch die Frauen gerückt. Von Kindern über jungen Frauen, alte Frauen, Schwangeren, eine, die keine Kinder bekommen kann und ihre Schwangerschaft erfindet, ist alles vertreten.
Die Bühne stellt ein zusammengezimmertes, abstraktes Kirchenschiff aus Holz dar, das bis in den Zuschauerraum ragt und so eine besondere Nähe zum Publikum aufbaut. Während am hinteren Ende der Bühne ein Altarraum erkennbar ist, wird das Orchester im vorderen Teil eingebettet.
Calixto Bieito, der die Produktion als szenische Vertonung eines Gedichts sieht, erzählt episodenhaft von den Schicksalen der Frauen. Allen Voran: Maria. Diese, in stummer Rolle dargestellt von Simone Becherer, steht ganz vorn am Bühnenrand und ist stets präsent. Statt wie in der Bibel fast nur auf eine Fußnote beschränkt zu sein, steht sie in dieser Marienvesper ganz im Mittelpunkt. Erfahrbar und nachempfindbar wird ihr Leben und ist plötzlich nicht mehr das einer Heiligen, weltweit verehrten, sondern das einer ganz normalen jungen Frau mit all ihren Ängsten, Sehnsüchten und Wünschen.