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Pflicht und Kür: Paavo Järvi dirigiert Schumann und Schostakowitsch

Von , 03 Februar 2025

Einen gemeinsamen Nenner zwischen den beiden Werken kann man mit dem besten Willen nicht finden. Zwischen Robert Schumanns schwelgerischem Klavierkonzert und Dmitri Schostakowitschs unzugänglicher Zehnter Symphonie liegen Welten. Beim Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi lag der Fokus eindeutig auf der Schostakowitsch-Symphonie. Weil das schwierige Werk nicht gerade ein Publikumsliebling ist, hatte man sich wohl dazu entschlossen, im ersten Teil des Abends etwas Populäres anzubieten. In der Interpretation wirkte das indes wie die Pflicht vor der Kür beim Eiskunstlaufen.

Paavo Järvi dirigiert das Tonhalle-Orchester Zürich
© Gaëtan Bally

Dass Anna Vinnitskaya erstmals bei der Tonhalle-Gesellschaft zu Gast war, erstaunt eigentlich. Die 41 Jahre alte Russin, die an der Musikhochschule Hamburg eine Klavierprofessur innehat und gleichzeitig eine rege internationale Konzerttätigkeit entfaltet, ist eine bemerkenswerte Erscheinung innerhalb der Pianistenzunft. Das Klavierkonzert in a-Moll, Op.54 von Schumann gab ihr die Gelegenheit, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Wenn man sie hört, fällt einem das Stichwort Poesie ein. Das bezieht sich einerseits auf die Klangfarben, die sie aus dem Konzertflügel zaubert, aber auch auf die vielen Tempi rubati, die ihrem Spiel etwas Improvisatorisches verleihen. Dazu kommt die Fähigkeit der Pianistin, sowohl den zärtlichen als auch den auftrumpfenden Aspekten des Soloparts gerecht zu werden.

Leider klappte die Koordination mit dem Orchester nicht wirklich gut. Schon bei der Eröffnung des Kopfsatzes waren die beiden kadenzierenden Akkorde vor dem Hauptthema des Klaviers rhythmisch nicht zusammen. In der Folge zeigte es sich, dass Järvi auf die agogischen Freiheiten der Pianistin zu wenig achtete, so dass das Orchester, bildlich gesprochen, nicht immer auf derselben Schiene fuhr wie die Solistin. Die Ecksätze erschienen zudem gar wuchtig und an gewissen Stellen nicht sehr ausgearbeitet, als wären sie nicht sehr intensiv geprobt worden. Schöne Wechselwirkungen zwischen Solo und Orchester ergaben sich indes im langsamen Mittelsatz.

Wie ausgewechselt präsentierten sich Dirigent und Orchester im zweiten Teil des Abends. Schostakowitschs Symphonie Nr. 10 in e-Moll, Op.93, wie überhaupt die Symphonien des großen Russen, scheinen Paavo Järvi ein Herzensanliegen zu sein. Man konnte es bereits im vergangenen Oktober bei der Sechsten Symphonie erleben. Die Zehnte entstand zwischen Juli und Oktober 1953, also unmittelbar nach dem Tod Stalins. Sie bietet deshalb in besonderer Weise Anlass zu Spekulationen über ihre Hermeneutik. Der Komponist hat dem Werk kein erklärendes Programm beigefügt, aber der Schostakowitsch-Biograph Solomon Wolkow behauptet, die Zehnte handle „von Stalin und den Stalin-Jahren“. Am plausibelsten wird dies am Beispiel des martialischen zweiten Satzes, den Järvi mit ohrenbetäubender Brutalität erklingen ließ.

Im Übrigen scheint die Symphonie eher ein Auto-Porträt des Komponisten und seiner seelischen Verfassung am Ende der Stalin-Diktatur zu sein, und die war alles andere als euphorisch. Ein Leitmotiv, das sich durch alle Sätze zieht, besonders aber den dritten Satz beherrscht, ist das Motiv mit den Tonbuchstaben D-Es(S)-C-H, was sich auf die Initialen von Schostakowitschs Vornamen und Namen bezieht.

Im ersten Satz, einem Koloss von 25 Minuten Dauer, holte Järvi all die wechselnden und sich widerstreitenden Gefühlslagen heraus. Da fehlte weder das Abgründige noch das Brutale oder Resignierte, und beim tänzerischen zweiten Thema war sogar eine Prise Humor herauszuhören. Zu einem wahren Schostakowitsch-Porträt geriet der dritte Satz, der die Utopie eines privaten Glücks jenseits eines repressiven Staatsapparats beschwört. Meisterhaft wurde der letzte Satz inszeniert: Das Hinauszögern des zu erwartenden optimistischen Schlusses spannte das Publikum geradezu auf die Folter, bevor dann der befreiende Schlussteil die Spannungen löste.

***11
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“Järvi ließ den martialischen zweiten Satz mit ohrenbetäubender Brutalität erklingen”
Rezensierte Veranstaltung: Tonhalle: Grosser Saal, Zürich, am 31 Januar 2025
Schumann, Klavierkonzert in a-Moll, Op.54
Schostakowitsch, Symphonie Nr. 10 in e-Moll, Op.93
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi, Musikalische Leitung
Anna Vinnitskaya, Klavier
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