Um in den Genuss des ganzen Projekts zu kommen, hätte man in einer Woche nach Genf, Zürich und Bern reisen müssen. Denn was der finnische Dirigent Sakari Oramo und das BBC Symphony Orchestra auf ihrer Schweizer Tournee zur Debatte stellten, ist nichts Geringeres als das symphonische Gesamtwerk von Jean Sibelius. Dies ist sehr lobenswert, denn die meisten Orchester begnügen sich in einem solchen Fall mit einem einzigen Tournee-Programm.
Wer nur dem Konzert in der Tonhalle Zürich beiwohnte, konnte mit der Zweiten und der Vierten Symphonie immerhin zwei Werke des Komponisten anhören, die nicht nur höchst gegensätzlich sind, sondern die auch Sibelius’ kompositorische Entwicklung innerhalb seiner sieben Symphonien andeuten. Ist die Zweite noch ganz von romantischem Geist und affirmativem Gestus durchdrungen, erweist sich die Vierte als wenig zugänglich, konstruktiv und schroff. Dazwischen liegen neun Jahre, in denen sich Sibelius von einem anfänglich national geprägten, traditionsverbundenen Komponisten zu einem Künstler gewandelt hat, der die Herausforderungen der beginnenden Moderne auf seine ureigene Weise reflektierte.
Mit dem Finnen Oramo, der dem BBC-Orchester seit 2013 vorsteht, lag die Leitung dieses Unternehmens in berufenen Händen. Dass er auswendig dirigierte, war schon fast eine Selbstverständlichkeit. Und die Kombination von Durchsetzungsvermögen und Empathie spornte das Orchester sicht- und hörbar an. Schnell war zu spüren, dass der Klangkörper, der mehr als zur Hälfte mit Frauen besetzt ist, zu seinem Maestro einen sehr guten Draht hat. In Zürich kehrte Oramo die Reihenfolge der beiden Symphonien verständlicherweise um, so dass das Publikum nach der wenig eingängigen Vierten mit dem Genuss der populären Zweiten belohnt wurde.
Schon im ersten Satz der Symphonie Nr. 4 in a-Moll, Op.63 zeigte sich der sperrige Charakter des Werks mit aller Deutlichkeit: ein Beginn mit grummelnden Kontrabässen, viele Pausen für die Violinen, kleingliedrige Motive statt eingängiger Themen, kein Aufschwung zu pathetischem Gestus. Der Dirigent arbeitete alle diese Eigenheiten kompromisslos heraus, wollte nichts glätten, nichts beschönigen. Nach dem abrupt endenden Scherzo führte der langsame Satz in eine versöhnlichere Welt. Endlich waren einmal lange Kantilenen, meist unter der Anführung der Celli, zu hören, die in einem kontinuierlichen Aufbau zu einem geradezu emphatischen Schluss führten. Im Schlusssatz zeigte Oramo wieder das Disparate des Werks. Er liess ihn als einen munteren Kehraus beginnen, nutzte dann aber alle Gelegenheiten, die vielen Brüche und Ungereimtheiten herauszustellen. Drastisch tat er dies am Schluss des Werks, wo nach einem kräftigen Aufschwung das ganze Klanggebilde in sich zusammenfiel und die Soloflöte und die Solooboe auf verlorenem Posten einen melancholischen Dialog anhängten.