Man nehme ein Ensemble von Figuren, deren Gesichter kreidebleich und deren übergroße Lippen rubinrot sind, deren Kopfbedeckung – ob napoleonischer Zweispitz oder halbmeterhoher Zylinder – schwer beladen ist mit Dekoration. Man stecke die besonders dysfunktionalen Figuren in vulgäre, übertriebene Kostüme: den Kokon der mütterlichen Schütze oder das blaue Kammgarn der offiziellen Militärkleidung. Dann füge man eine Mischung von weinerlicher Sentimentalität, gefühlloser Behandlung der Unterprivilegierten, brutalem Sadismus und sexueller Ausnutzung hinzu und man kann den Puls dieser ausgesprochen superben Produktion spüren.
Das Bühnenbild allein (Michael Levine) hebt sie von Anfang an ab. Gründend auf der Idee eines viktorianischen Modelltheaters – dessen austauschbare Flügel einen malerischen Innenraum bzw. eine malerische Landschaft hinter der anderen zeigen – ist das erste Bild hier das eines immensen Bilderrahmens. Zu Anfang ereignet sich die Bühnenhandlung nur hinter seiner untersten „Sprosse“, sind von den Charakteren nur die Oberkörper zu sehen. Nach und nach öffnet sich der Raum dahinter in eine Welt voller schmerzlicher Engstirnigkeit und menschlicher Tragödie.
Basierend auf Georg Büchners Schauspiel Woyzeck besteht Alban Bergs Oper aus drei Akten von je fünf Szenen. Zusammen ergeben die 15 Vignetten eine nahtlose Struktur um ein Libretto, das Berg aus dem Stück des österreichischen Dramatikers adaptiert hat. Die Oper, die oft als erste Avantgarde-Oper des 20. Jahrhunderts und als überragendes Beispiel von atonaler Musik betrachtet wird, wurde im Dezember 1925 in Berlin zu kritischen Rezensionen uraufgeführt. In der Deutschen Zeitung der Stadt schrieb Paul Zschorlich: „Die Musik von Alban Berg ist wahrhaft entsetzlich. Von dem in Jahrhunderten errichteten Harmoniegebäude ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Orchester quiekt, wiehert, grunzt und rülpst.“ Bergs andere Kritiker waren weniger gnädig und das Nazi-Regime ordnete das Werk in den 1930ern den Rängen der „entarteten Musik“ zu.
Entartet? Die neue Zürcher Produktion ist eine so faszinierende Oper wie ich sie selten gehört habe. Den Blick für die ganzen 90 Minuten Spielzeit von der Bühne gebannt, wurde ich überflutet von der Narrative, die Bergs Musik so brillant in Bewegung bringt, und in der bestimmte Motive verschiedene Stimmungen unterstreichen. Wenn Nachbarin Margret (Irène Friedli) in die Zange nimmt, tut sie es zu Marschmusik, die Verführung/sexuelle Gewalt am ende des ersten Aktes wird von durchdringenden Hörnern begleitet. Wieder und wieder tritt der berühmt-abscheuliche Tambourmajor (superb: Brandon Jovanovich) zu dem Geschmetter von blecherner Perkussion auf, und Wozzecks repetitives „Wir arme Leut“ wird in einem hervorstechenden Akkord wiederholt, um es dem Hörer mit der Zwecklosigkeit der Hoffnung auf Änderung seiner schlimmen Lage unbequem zu machen.