„Liederabende sind in neuester Zeit nachgerade epidemisch geworden. Alles, was singt und klingt und nicht klingt, will heutzutage vom Podium herab zwitschern und jubilieren“, schrieb Hugo Wolf, der große spätromantische Liederkomponist, 1887 in seiner Kapazität als Musikkritiker. Der Liederabend, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen war, war zu dieser Zeit ein aktuelles Phänomen. 1856 war der Bariton Julius Stockhausen der erste Sänger, der eine gesamte öffentliche Vorstellung mit Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin gab; davor waren Liederabende private Angelegenheiten in den Salons des Mittelstandes. Die berühmtesten davon waren die Wiener Schubertiaden, in denen Schuberts Lieder zuerst gehört wurden. Ganz so, wie es Brauch war, trat Stockhausen mit einem unterstützenden Künstler, beispielsweise einem Solo-Pianisten auf. Zu der Zeit, zu der Wolf seinen milden Verdruss über die Ausbreitung der Liederabende Kund tat, hatte der Tenor Gustav Walter den Liederabend wie wir ihn heute kennen, berühmt gemacht – ein Liederprogramm, üblicherweise gesungen von einem Solisten, begleitet von einem Pianisten.
Unter allen klassischen Vokalformaten scheinen Liederabende das am wenigsten beliebte zu sein. Während Häuser mit internationalem Prestige wie die Wigmore Hall ihr treues Publikum halten, gibt es Bedenken über die Zukunft dieses vermeintlich vornehmen Rezepts mit seiner altmodischen, intellektuellen Aura. Es scheint in jedem Falle am wenigsten Publicity zu bekommen. In einer Zeit, in der die Berichterstattung aus der Kunst in Printmedien radikal zurückgeht, stehen Lieder regelmäßig im Schaffen von Opern und Chorwerken, wenn das Konzertplakat nicht einen oder zwei große Namen verspricht. Ein möglicher Grund ist, dass es nicht einfach ist, eine knackige Recital-Kritik zu schreiben und dabei das Auflisten von Liedern wie in einer To do-Liste zu vermeiden. Viele Fans des klassischen Gesangs haben Vorbehalte über die unterschätzte Natur der Lieder. Wie kann ein einzelner Sänger mit Klavierbegleitung ein Herz höher schlagen lassen? Und was ist damit, dass man eine Fülle von Text in einer fremden Sprache aufnehmen muss? Ich vermute, dass diese Merkmale einen Konzertgänger dazu bringen können, Liederrecitals zu meiden, deren größte Stärke sind. Mit den richtigen Künstlern kann ein Liederabend genauso denkwürdig wie ein Opernabend oder eine Symphonie sein.
Bevor wir nun weitergehen, lassen Sie uns den Jargon entmystifizieren. „Lied“, im Englischen „song“, bezieht sich dabei auf vertonte Gedichte, oder sogenannte „Kunstlieder“. In Frankreich nennt man sie „mélodies“, als Abgrenzung zu den „chansons“, die Pop- oder Volkslieder sind. Genaugenommen ist ein Recital ein Programm von Kunstliedern auf Deutsch, doch Programme sind häufig mehrsprachig, und „Lieder“ bezieht sich auch lose auf das Kunstlied im Allgemeinen. Menschen haben immer Lieder komponiert – um zu feiern, um Geschichten zu erzählen, zu trauern, zu freien, zu trösten und zu unterhalten. Kunstlieder sind einfach der Beitrag der klassischen Musik zu diesem Meer an gesungenem Ausdruck. Mozart und Beethoven schrieben die ersten Lieder im etablierten Repertoire. Im 19. Jahrhundert erhob Franz Schubert das Kunstlied auf seinen künstlerischen Höhepunkt mit seinen Vertonungen romantischer Gedichte. Schubert machte den begleitenden Pianisten auch zum gleichwertigen Partner des Sängers. In seinen Liedern und denen seiner Nachfolger hat der Pianist oft genauso viel zu sagen wie der Vokalist. Zusammengenommen kann eine Gruppe Lieder eine poetische und musikalische Narrative bilden, die man Liederzyklus nennt. Beethovens An die ferne Geliebte ist ein frühes Beispiel. Als Schubert Gedichte von Wilhelm Müller in diese dunkle Nacht der Seele setzte, die Winterreise, so schuf er die größte Herausforderung, der sich ein Sänger in einem Zyklus stellen kann. Schumann, Brahms und Wolf schrieben ebenfalls Lieder von frappanter emotionaler Tiefe und Differenziertheit. Später kamen Lieder für Orchester wie die Gustav Mahlers, doch wir wollen uns auf Lieder für Stimme und Klavier konzentrieren. Das Kunstlied gedieh auch außerhalb Österreichs und Deutschlands, und das Repertoire ist nun voller Lieder auf Französisch, Russisch, Spanisch, Englisch und anderen Sprachen.
Was also macht ein Kunstlied so wundervoll? Zuerst einmal der Text. Obwohl es Arrangements von traditionellen Volksliedern gibt, wurden viele Lieder von den besten Zeilen inspiriert, die je geschrieben wurden. Petrarca, Shakespeare, Goethe und Baudelaire haben alle die Lied-Behandlung erfahren. Zweitens findet man einige der zauberhaftesten klassischen Melodien in Kunstliedern. Selbst, wenn Sie kein Aficionado sind, werden Sie wahrscheinlich Mendelssohns Auf den Flügeln des Gesanges oder Leoncavallos Mattinata (Morgen) erkennen. Wenn Sie große Dichtung und große Musik lieben, sind Kunstlieder das Richtige für Sie. Ein weiterer Vorteil eines Lied-Recitals ist, dass sie fantastische Pianisten aus nächster Nähe beobachten können. Die besten Begleiter geben eine Art illusionistische Show, gleiten ins Scheinwerferlicht und ziehen sich wieder zurück, wie es nötig ist, und die faszinierendste Zusammenarbeit zwischen Sänger und Pianist gleichen einem unbewegten, streng choreographierten Tanz. Schließlich sind Kunstlieder so verschieden wie das Leben selbst. Durch die Vielseitigkeit an Stimmungen, musikalischen Stilen und kulturellen Geschmäckern gibt es ein Lied für jeden zu jeder Zeit. Die Themen reichen von albern bis tiefgründig, und viele Lieder haben mehrere Ebenen, von der direkten melodischen zur schmerzlich existentiellen Resonanz.
Ein Liederabend ist die am einfachsten und kostengünstigsten zu organisierende Form des Vokalkonzertes, aber aus künstlerischer Sicht die gefährlichste. Das intime Arrangement erlaubt es Künstlern, mit subtilen Schattierungen zu kommunizieren, die andernorts nicht möglich sind. Emotionale Offenheit und Ehrlichkeit sind unabdingbar. Nicht jeder Sänger ist ein Liedsänger. Ausgezeichneten Opernsängern kann der notwendige feine interpretatorische Pinsel fehlen. In bestimmten narrativen Liedern wie Schuberts schaurigem Erlkönig muss ein Sänger innerhalb nur weniger Zeilen verschiedenen Charakteren Leben einhauchen. Es gibt keine Kostüme, kein Bühnenbild, um dabei zu helfen, keine Orchesterfarben für die richtige Stimmung – alles muss aus der Stimme kommen. Meisterhafte Technik ist eine Voraussetzung, den jedes Wackeln, jeder Bruch wird exponiert. Guter Gesang und schöne Stimme allein sind jedoch nicht genug. Für eine wertvolle Erfahrung muss das Publikum von der expressiven Kraft des Sängers bewegt werden. Die besten Liedinterpreten ziehen uns mit ihrer Intensität in ihren Bann und gestatten uns einen Blick in ihre Psyche durch den Text. Die allergrößten zeigen neue Bedeutungsebenen auf, wenn sie bekannte Werke singen. Paradoxerweise sind Liederrecitals aus ökonomischer Sicht ideal für Sänger, die gerade am Anfang ihrer Karriere stehen, doch sie besitzen womöglich noch nicht die künstlerische Reife, um ein abendfüllendes Programm zu tragen. Andererseits treten große Liedsänger auf der Höhe ihrer Beliebtheit oft in großen Sälen auf, in denen die Intimität weit weniger groß ist. Die Quelle des Kunstliedes ist zum Glück aber so tief, dass es für jedes Stadium künstlerischer Reife und für jede Stimme etwas Passendes gibt. Anders als viele Opernrollen kann ein Kunstlied transponiert und damit dem Umfang eines Sängers angepasst werden. Selbst vergleichsweise unerfahrene Sänger können einen erfolgreichen Liederabend geben, vorausgesetzt, sie haben ein Talent dafür und entscheiden sich für das richtige Programm.
Vergleichsweise günstig zu organisieren, weitreichend und mit den besten Texten und einigen der besten Melodien im Geschäft – man sollte meinen, diese Qualitäten wären genug, um die Beliebtheit von Liederabenden sicherzustellen. In einer Zeit, in der Unterhaltungsangebote zahlreich sind und Häuser mit klassischem Programm ihre Strategien für das Erhalten und das Erweitern ihres Publikums beständig neu evaluieren müssen, ist es wichtig, dass das Kunstlied in Promotions- und Lehrprogrammen nicht vergessen wird. Die Tatsache, dass die Gattung in deutschsprachigen Ländern, die als Lied-Inkubator gedient haben, noch immer gedeiht, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die dortigen Schulchöre sich noch immer in Arrangements von Schuberts Lindenbaum stürzen.
Hat man einmal neues Publikum in den Saal gelockt, muss man es natürlich auch davon überzeugen, wiederzukommen. Neben der Qualität des Konzertes sollten Liedsänger und -begleiter sowie Veranstalter an Folgendes denken:
Vielfalt
Spielzeiten wie auch Konzerte müssen vielfältig sein. Obwohl Schuberts 600 Lieder genug Vielfalt für eine ganze Spielzeit bieten, hört ein Publikum gerne weniger offensichtliches Repertoire. Sowohl Georges Bizet als auch Frederick Delius beispielsweise schrieben Lieder für Stimme und Klavier; Zeitgenössische Komponisten erweitern den Katalog beständig. Ob ein Programm aus Liedern eines einzelnen oder mehrerer Komponisten oder nach Thema zusammengestellt wird, die Auswahl sollte sich in Rhythmus und Duktus unterscheiden. Nach einem ganzen Abend voller Trauerlieder in Begräbnistempo, ganz gleich wie brillant vorgetragen, wird jedes Publikum depressiv nach Hause schicken. Einige der rundesten Recitals verbinden Lieder und Komponisten anhand des Dichters, des Ortes, oder eines Zeitstrahls. Etwas, das alle guten Recitals gemein haben, ist, dass sie den Hörer auf eine Reise mitnehmen, und eine Reise ohne Szenenwechsel ist monoton. Einer meiner denkwürdigsten Recitalbesuche war ein Abend mit der Sopranistin Anna Prohaska. Die Lieder waren alle um Ophelia aus Shakespeares Hamlet herum gewählt, in einem kaleidoskopartigen Spektrum an Sprachen und musikalischen Idiomen. Der Abend verging wie im Flug. Neue Variationen des Standardformats halten den Liederabend frisch und ziehen möglicherweise auch Hörer aus anderen Kunstformen an. Dazu zählen inszenierte Liederzyklen, Gesang und Film, Kombination von Recital und Lesung, oder, ganz wie in Zeiten Julius Stockhausens, eine Mischung aus Lieder und Kammermusik.