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Bummelzug von Palermo nach München: Cavalleria / Pagliacci an der Bayerischen Staatsoper

By , 30 May 2025

Nach 46 Jahren endlich wieder eine Neuproduktion der Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni sowie Pagliacci von Ruggero Leoncavallo an der Bayerischen Staatsoper! Zwei Jahre liegen zwischen der Entstehung der Operneinakter, beide wurden als Beitrag zu Wettbewerben des italienischen Verlags Casa Musicale Sonzogno eingereicht, bei dem die Komposition einer Oper in einem Akt verlangt war. Beide wurden ausgezeichnet, 1890 Cavalleria rusticana uraufgeführt. In New York erklangen sie erstmals zusammen, nachdem beide exemplarisch wirkten für den Verismo, dieser italienischen Spielart des Realismus, der den Blick auf die Unterschichten richtet, ihre Handlungen oft an Orten spielen lässt, die von Armut geprägt waren: in Städten wie Neapel oder in sizilianischen Dörfern, um dem einfachen Volk und den Bauern eine Stimme zu geben. Beide Handlungen spielen in einer Welt, die ihren Halt verloren hat und die sich umso mehr an ihre Traditionen klammert.

Ekaterine Buachidze (Lola) und Ivan Gyngazov (Turiddu)
© Geoffroy Schied

Das Regieteam um Francesco Micheli, langjähriger Leiter des Donizetti-Festivals in Bergamo, der erstmals eine Münchner Produktion verantwortete, hat für die beiden unabhängig voneinander entstandenen Opern eine gemeinsame Klammer gefunden: „die Geschichte eines Mannes, der in Cavalleria seine Wurzeln verloren hat und in Pagliacci versucht, seine ursprünglichen Bindungen in einer neuen Gemeinschaft wiederherzustellen, aber dabei elendig scheitert.“ Migration ist ein Phänomen nicht nur der Vergangenheit. Viele junge Süditaliener, wenngleich deren Zahl derzeit gesunken ist, und mit ihnen Migranten aus armutsgefährdeten Regionen der Welt müssen ihr Glück auch heute noch woanders suchen.

Ivan Gyngazov (Turiddu) und Ekaterine Buachidze (Lola)
© Geoffroy Schied

Wie in einer Postkartenidylle lassen Micheli und sein Bühnenbildner Edoardo Sanchi die Cavalleria an einem Strand beginnen, wo sich der junge Turiddu und seine Verlobte Lola voneinander verabschieden, da er im reicheren Norden Geld verdienen will für das gemeinsame Glück. Im Eisenbahnwaggon fährt er ab, ausgeschildert „Palermo – München“. Aus dem Bühnenplafond wird eine Drehbühne abgesenkt; mit der süditalienischen Bauernromantik ist es darauf vorbei: kantige Holzbänke und Tische dienen wahlweise als Kirchenmobilar wie als Marktbestuhlung einer Trattoria, die die Bewohner zum Bicchiere di rosso aufsuchen. Auf einer ausladenden Bettstatt, die sich ebenso langsam im Kreis dreht, ruht Lola, die inzwischen den Kaufmann Alfio geheiratet hat. Turiddu wird bei der Rückkehr von seiner Mamma Lucia innig umarmt; er macht Santuzza den Hof, beginnt jedoch auch eine Affäre mit Lola, deren gehörnter Gatte Turiddu zum Duell fordert. Bevor es einen Toten gibt, verschwindet Turiddu – nach Norden.

Yulia Matochkina (Santuzza), Rosalind Plowright (Mamma Lucia) und Ekaterine Buachidze (Lola)
© Geoffroy Schied

Wenig mediterran ist die Lichtregie (Alessandro Carletti) in der Cavalleria. Da dominieren düster blaue, blutfarbene wie fahle Lichttönungen, lasten lähmend auf der ausweglosen Situation, lassen eher an russische Atmosphäre einer Puschkin-Novelle denken. Ähnlich schwermütig empfindet man auch die Personenregie, in der neben zahlreichen bäuerlichen Statisten auch die Choristen oft statisch agieren; keine Spur einer aufregend lebendigen Italianità.

Ekaterine Buachidze (Lola) und Wolfgang Koch (Alfio)
© Geoffroy Schied

Klangedel das Bayerische Staatsorchester, das Daniele Rustioni im berühmten Intermezzo berührend aufrauschen, sonst ebenfalls in getragenem Lento musizieren ließ, als wenn die Drehbühne den Takt angäbe. Überzeugend die Sängerriege, in der Yulia Matochkina als Santuzza und Ekaterine Buachidze als Lola gefühlvoll brillierten. Ivan Gyngazov imponierte mit leuchtkräftigem Tenor als Turiddu, als Lucia Rosalind Plowright. Wolfgang Koch gab einen verschlagenen Alfio.

Ailyn Pérez (Nedda)
© Geoffroy Schied

Deutlich lebhafter gelang der zweite Zwilling des Abends mit Pietro Mascagnis Pagliacci. Offene Waggons, hell ausgeleuchtet und aufwändig ortstypisch möbliert als Eckkneipe oder Küchenzeile, werden von fleißigen Helfern hin und her rangiert, sind bildgebende Bühnenteile im Pagliacci, der im München der Siebzigerjahre spielt. Turiddu, hierhin geflohen, heißt jetzt Canio, ist mit der türkischen Migrantin Nedda liiert und arbeitet in einem kleinen Theater, wo Kellner eifrig Spaghetti herumtragen und Deutsche wie Italiener vor dem TV-Screen beim Fußball zwischen Deutschland und Italien im WM-Halbfinale 1970 ihre Emotionen hochkochen lassen. Angekommen ist auch der aus Italien stammende Koch Tonio noch nicht. Und Canio hält sich fest am traditionellen Pantomime-Repertoire in einer Gesellschaft, die sich mit rasender Geschwindigkeit verändert. Altüberlieferte Geschichten bleiben nur noch die folkloristische Dekoration eines Abends bei Maccheroni und Mandolinenklang, wirken in einer ganz auf moderne Zeiten eingestellten Stadt wie München desto antiquierter.

Jonas Kaufmann (Canio) und Ailyn Pérez (Nedda)
© Geoffroy Schied

Nedda, von Ailyn Pérez mit glühenden Sopranhöhen leidenschaftlich gestaltet, will sich emanzipieren, wozu auch eine für sie neue sexuelle Freiheit gehört. Aber durch die Beziehung zu drei Männern, die sie, jeder auf seine Weise, gerne lieben würden, bleibt ihr diese Freiheit verwehrt.

Ailyn Pérez (Nedda)
© Geoffroy Schied

Jonas Kaufmann übernahm als Canio die Clownsrolle. In seiner kraftvollen, dunkel herausleuchtenden und doch samten glimmenden Tenorpower verkörperte er ideal den Zwiespalt dieses entwurzelten Zeitgenossen, der zwar der Vendetta entgangen ist, aber nun zum Protagonisten von Morden an Nebenbuhlern wird. Wolfgang Koch, vom Alfio zum Tonio verwandelt, intrigiert wohltönend im Hintergrund und steckt Canio das Messer zu, das dieser, Bühne und Leben vermengend, eifersüchtig einsetzt.

Jonas Kaufmann (Canio)
© Geoffroy Schied

Herrlich anmutiges Spielfeuer, das der traditionellen Commedia dell'arte entnommen schien, entfachten Nedda als Colombina und ihr Arlecchino, den Granit Musliu stimmlich wie vokal überzeugend ausstattete. Unermüdlich warb um Nedda daneben auch Silvio, den Thomas Mole als moderneren Liebhaber mit Verve gestaltete.

Ailyn Pérez (Nedda) und Jonas Kaufmann (Canio)
© Geoffroy Schied

Springlebendiger Kinderchor und wohltönender Staatsopernchor brachten Leben in die Volksszenen. Und Rustioni zauberte nun mit dem Staatsorchester ein klangfarbenreiches musikalisches Panorama in den Raum. Die Diskussion über Migration, in ihrer Komplexität ein zeittypischen Phänomen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, darf weitergehen.

***11
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“Ailyn Pérez gestaltet Nedda leidenschaftlich mit glühenden Sopranhöhen”
Reviewed at Nationaltheater, Munich on 29 May 2025
Mascagni, Cavalleria rusticana
Leoncavallo, Pagliacci
Bavarian State Opera
Daniele Rustioni, Conductor
Francesco Micheli, Director
Edoardo Sanchi, Set Designer
Daniela Cernigliaro, Costume Designer
Alessandro Carletti, Lighting Designer
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor
Alberto Mattioli, Dramaturgy
Malte Krasting, Dramaturgy
Yulia Matochkina, Santuzza
Ivan Gyngazov, Turiddu
Wolfgang Koch, Alfio, Tonio
Ekaterine Buachidze, Lola
Rosalind Plowright, Mamma Lucia
Jonas Kaufmann, Canio
Ailyn Pérez, Nedda
Granit Musliu, Beppe
Thomas Mole, Silvio
Christoph Heil, Choirmaster / chorus director
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