Gounods Faust ist für viele Menschen im deutschsprachigen Raum eine große Frechheit, denn Goethes gleichnamige Tragödie wurde dafür ordentlich durch die Mangel gedreht. Doch bekanntlich siegt Frechheit, sonst hätte sich diese Oper nicht seit 1859 auf den Bühnen gehalten. In Frank Castorfs temporeicher Inszenierung an der Wiener Staatsoper erlebt man auch, warum.
Gounod verehrte zwar Goethes Meisterwerk, doch verfassten seine mäßig motivierten Librettisten Jules Barbier und Michel Carré ein Faust-Potpourri, das im Lauf der Zeit durch Intendanten, Sänger- und Publikumswünsche weiter verzerrt wurde, bis hin zur Nicht-Nachvollziehbarkeit der Handlung. Der Kindsmord findet etwa nur lapidare Erwähnung und lässt Marguerite ziemlich zusammenhanglos ins Verderben stolpern. Übrig blieben Ohrwurm-Musik und der zumindest unterhaltsame Zugang, den französischen Faust nach Jugend und Lebenslust statt nach Erkenntnis streben zu lassen.
Bühnenbildner Aleksandar Denić hat dafür einen genial verschachtelten, drehbaren Pariser Mikrokosmos aus Notre Dame, Telefonzelle, Café, Fleischerei, Wohnungen und mehr geschaffen. Live-Kameras übertragen Details der nicht einsehbaren Nebenschauplätze auf Leinwände über der Bühne und sorgen so für ein veritables Panoptikum. Als historischen Hintergrund wählt Castorf den Algerienkrieg und wirft mit seiner Kolonialismuskritik eine moralische Frage auf, die der Geschichte ein wenig von ihrem originalen Tiefgang zurückgibt. Seine Bilder- und Symbolflut wirkt wie ein turbulenter Traum und lenkt damit gekonnt von den Inkonsistenzen des Librettos ab.
Nach einem eher verhaltenen Start, der wohl auch der Darstellung des alten Faust geschuldet war, steigerte sich Piotr Beczała in der Titelpartie rasant und brillierte nicht zuletzt mit einem hohen C in „Salut! Demeure chaste et pure“, das so strahlend war, wie Faust sich seine Marguerite denkt. Beczała ist zurecht ein Star und Publikumsliebling, doch hatte er mit Nicole Car und Adam Palka starke Konkurrenz.
Car schafft als Marguerite einen großen Entwicklungsbogen von Unschuld über Koketterie bis hin zu dramatischer Verwirrung am Schluss, und ihr weiches Timbre kommt in jeder Situation bestens zur Geltung, auch wenn nicht jeder Spitzenton so glitzerte wie die Juwelen, die sie in ihrer großen Arie besingt. Die Szene mit den Juwelen ist allerdings jene, in der man Castorfs grandioser Inszenierung am wenigsten folgen kann: Es ist nicht ganz erklärlich, warum Marguerite, aufgedonnert mit einem langen goldenen Bustierkleid und reichlich Schmuck, von Fausts Juwelen beeindruckt sein soll – das rote Glitzerkleid, das Teil des Geschenks ist, legt sie auch gleich achtlos weg.
Im mitreißenden Rondo „Le veau d’or“ heißt es, dass Satan den Ball anführt, und Adam Palka ist als Méphistophelès tatsächlich die treibende Kraft des Abends. Wenn dieser Méphistophelès nicht gerade pferdefüßig und „oben ohne“ unterwegs ist, trägt er eine Anzugweste zu nackten tätowierten Armen, und manchmal auch Zylinder oder einen Schamanenkopfputz – da hat sich Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki ausgetobt. Palkas Bühnenpräsenz wird durch die Video-Großaufnahmen noch verstärkt – es wäre auch zu schade, das Augenrollen dieses Teufelskerls zu verpassen. Stimmlich „fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt“ (wie es schon in Goethes Faust heißt), aber auch schmeichelnde Kantilenen in „Vous qui faites l’endormie“. Etwas Verbesserungspotenzial gibt es noch bei der französischen Aussprache.