Nach der Uraufführung des Dramma tragico Lucia di Lammermoor im September 1835 wurde von einem Chronisten berichtet, dass die „Menschen wie rasend“ im Teatro San Carlo in Neapel am Schicksal der Protagonistin Anteil nahmen und, als jene dem Wahnsinn verfiel, ein „Schluchzen der Menge“ den Saal erfüllte. Donizettis gemeinsam mit dem Librettisten Salvatore Cammarano entworfene Vertonung von Walter Scotts schottischer Erzählung The Bride of Lammermoor spiegelte Angst, Schrecken und Verzweiflung der beunruhigten Bevölkerung nördlich der Alpen wider, die von den politischen Wirren der Bewegung des Risorgimento erschüttert war.
Dass der hierin thematisierte Konflikt von gesellschaftlicher Pflicht und selbsterfülltem Leben bis in die Gegenwart nichts an dessen Brisanz verloren hat, beweist Christian Pades feinfühlige Inszenierung aus dem Jahr 2011. Am Nationaltheater Mannheim wird sie in Alexander Lintls metaphorischem Bühnenraum und sinnreichem Kostümbild zum Psychogramm einer schwer verwundeten, empfindsamen Seele. Hinter den hoch aufstrebenden Gittern des von Macht und Gewalt beherrschten Staatssystems der beiden zerstrittenen Adelsgeschlechter Ashton und Ravenswood flieht Lucia in eine wahnhafte Vorstellung von Romantik und scheidet im blutgetränkten Bettlaken in der Hochzeitsnacht glücklich beseelt aus der Welt.
Die Sopranistin Estelle Kruger brillierte am Abend der Wiederaufnahme in der Titelpartie und ließ die Vorstellung zu einem Ereignis werden. Mit viel Gespür zeichnete sie das Bildnis eines weltentrückten, in morbider Phantasie verzückt mit toten Raben und Grabblumen spielenden jungen Mädchens nach. Ihre heimliche Liebe zu dem verfeindeten Edgardo wusste sie mit einem Blumenrock, unter dessen Saum ein weißes Brautkleid zum Vorschein kam, gekonnt zu verbergen, währenddessen sie ihrem Bruder Enrico geschickt einen Dolch entwendete, um sich mit selbigem und einem seligen Lächeln die Pulsadern aufzuschneiden. Zwischen Todessehnsucht und Verklärung glitt sie gleich einer Geistererscheinung im schön geführten Piano über die Bühne und leuchtete mit ihrer vokalen Gestaltungsvielfalt die tiefen Abgründe der Figur aus. Unter dem luziden Klang der sphärischen Glasharmonika schaukelte sie während ihrer Wahnsinnsarie „Il dolce suono“ manisch im Takt der Musik und ließ in den Spitzentönen ihres Fortissimo die sinistre Bedrohlichkeit, die obertonreiche Grausamkeit ihres nahenden Todes im Koloraturgesang deutlich werden.
Evez Abdulla, der mit agilem Bariton als Enrico debütierte, zwang Lucia mit gepresster Stimme und aggressiver Geste zur Vernunftehe. Wie er zu Beginn einen Hirschkadaver, der am Bühnenrand lag, ausweidete, nahm er letztlich seine eigene Schwester aus. Daneben wirkte Irakli Kakhidze in seiner sehr schlichten und prosaisch wirkenden Darstellung des Edgardo im blauen Hosenanzug mit Aktenkoffer geradezu ernüchternd. Sein nahezu verhaltenes Rollendebüt gewann erst in der Schlussszene „Fra poco a me ricovero“ in den vom ihm sehr lyrisch angelegten Passagen und seinem im italienischen Belcanto aufgehenden Tenor an Leuchtkraft.