Jeder Dirigent hat im Laufe seiner Arbeit ein oder mehrere Klischees aufgedrückt bekommen. Kent Nagano wird nachgesagt, dass die von ihm geleiteten Aufführungen zwar hinreißend, aber zu leicht dirigiert seien. Doch die unter seiner Leitung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin erklingende Sechste Symphonie Mahlers hinterließ einen ganz anderen Eindruck.
Mahlers „Tragische“ ist die klassizistischste seiner Symphonien und kann doch nur in dieser Strenge das der Gattungsgeschichte verpflichtete Erbe sprengen. Dem als Vermittler der Moderne geltenden Dirigenten war es darum ein Anliegen, eine Verbindung dieser Seiten herzustellen, und in der Form die großen Gegensätze aufzufangen. Die vom Marschgestus beherrschten Passagen ordnete er einem strikten Grundschlag unter; in den Abschnitten, die diese kontrastieren, gestattete er dem Orchester dagegen ein rubatoseliges Spiel, das durch Mahlers überreiche in der Partitur notierten Spielanweisungen unterstützt, die Musik ins Fließen brachte. Wenn etwas fehlte, dann wäre anzumerken, dass die dynamisch gleichfalls von Mahler sehr differenziert notierten Anweisungen häufig nicht beachtet wurden. Während Nagano in dem die ganze Partitur durchwirkenden Dur-Moll-Siegel zu Beginn die chiastische Dynamik genau befolgte – die Trompeten haben von ff zu pp zu decrescendieren, die Oboen umgekehrt dazu gleichzeitig von p zum ff ein Crescendo zu blasen müssen überspielte er an vielen Stellen ähnlich präzise fast paradox anmutende Vorschriften in Mahlers Partitur.
Gut gelungen, weil den Geist der Partitur hervorkehrend, waren die nach A-Dur gezerrte Vorwegnahme der Hauptthemenreprise und das inszenierte Spektakel, mit dem das durchaus den Kitsch streifende Seitenthema am Ende in die Apotheose gedrängt wurde.
Erst im Andante wurden die lyrischen Töne der Symphonie in ein Präteritum versetzt, in dem sich nun ausbreiten durfte, was dem Seitenthema des Kopfsatzes verwehrt war – etwa in der betörend schön von Max Werner vorgetragenen alten Englischhorn-Weise. Wenn für mich das dem Formverlauf externe Misterioso, in dem das einzige Mal in der Symphonie C-Dur für einen Moment zum Erklingen kommt, nicht so unbeschreiblich still gelang, wie dies Abbado einst gelungen ist, dann möchte ich, bevor ich vorschnell aburteile, statt zuzuhören, fragen, ob Nagano vielleicht gar nicht recht an diese Idylle glaubt und sie darum fast etwas verlegen in den Hintergrund treten ließ. Wie genau Nagano die Partitur nämlich kennt, war kurz danach festzustellen, wenn er hellhörig das von der alten Weise eigentlich längst verdrängte erste Thema sich kurz in den Bratschen doch noch einmal Gehör verschaffen ließ.