Shakespeare sollte man an diesem Abend vergessen. Und Verdi gleich mit ihm. Gioachino Rossini und sein Librettist Francesco Maria Berio haben die berühmte Tragödie an einigen entscheidenden Stellen umarrangiert. In ihrem Otello stellt sich Desdemonas eigener Vater Elmiro einer Ehe zwischen seiner Tochter und dem triumphierenden, nordafrikanischen Feldherrn in den Weg. Aus politischen Gründen will er sie am Arm von Rodrigo sehen, dem Sohn des Dogen. Intrigant Jago, der bei Rossini statt des berühmten Taschentuchs einen Brief abfängt, taucht zwar auch auf, die Figur bleibt jedoch eine blasse Randfigur und befeuert lediglich Verdachtsfunken, die längst im eifersüchtigen Otello lodern.
Wenn die Oper Frankfurt Rossinis Otello als Eröffnungsstück der Saison zeigt, fügt sich diese Entscheidung in ein wiedererstarkendes Interesse an Rossinis Seria-Opern. Trotzdem dürfte das Stück beim heutigen Publikum noch nahezu unbekannt sein. Seine einstige Strahlkraft, die Rossinis eigenwilligen und innovativen Otello zur musikalischen Sensation der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts torpedierte, hat das Werk längst noch nicht wiedererlangt.
Einen erneuten Popularitätsschub dürfte auch die Besetzung erschweren. Rossini komponierte mit Otello, Rodrigo und Jago drei Tenorhauptrollen. Ungemein schwer sind die noch dazu, was in Frankfurt leider deutlich hörbar blieb. Vor allem Enea Scala in der Titelpartie, die einen immensen Ambitus und zugleich eine enorme Flexibilität für die zahlreich komponierten Koloraturen erfordert, mühte sich von Beginn an mit metallischer Enge durch den Abend. In mittlerer Lage war zwar deutlich, dass der Italiener über einen imposanten Stimmapparat verfügt, doch hätte er sich damit eher für Verdi als Rossini qualifiziert. Vor allem in der Höhe half ihm seine Stimmwucht wenig. Auch Theo Lebow als Jago beeindruckte eher durch überengagiert schauspielerische denn stimmliche Leistungen. Wie ein Wahnsinniger wälzt und springt sich die Schlange über die Bühne, sodass ihm fürs Singen kaum Raum blieb.
Einzig Jack Swanson sang den Rodrigo so schön, dass man Mitleid bekommen mag mit Otellos Konkurrenten. Sowohl den herausfordernden Umfang als auch die vielen waghalsig schnellen Sprünge vermochte der junge Amerikaner zum allergrößten Teil bravourös, ja beinahe leichtfüßig zu bewältigen. Vollkommen zurecht war seine Arie im zweiten Akt („Che ascolto? ahimè, che dici?“ – „Ah, come mai non senti“) dem Frankfurter Publikum einen anhaltenden Zwischenapplaus wert. Elegant präsentierten sich auch Hans-Jürgen Lazar als Doge und berührend vor allem Michael Petrucceli als Lucio, ein Gondoliere (in Frankfurt: Arzt) mit der berühmten melancholischen Kanzone im letzten Akt, die Franz Liszt in seinem Klavierzyklus Venezia e Napoli verarbeitete. Solide und überaus wendig in tiefer Lage stach auch Ensemble-Mitglied Thomas Faulkner als Desdemonas Vater Elmiro in der einzigen Basspartie hervor.