Das Tauwetter hat eingesetzt und das gefährliche Blitzeis auf den Straßen der kleinen Ortschaft Rougemont seine tückischen Launen gezeigt, als die Musiker am Montagabend der Sommets Musicaux von Gstaad die Bühne der kleinen romanischen Kirche betreten. Die Zuschauer sitzen hier dicht an dicht, gespannt eine außergewöhnliche Darbietung erwartend: die Winterreise gesungen von Fischer-Dieskaus und Elisabeth Schwarzkopfs Schüler Matthias Goerne, dessen Aufnahmen der Schubertlieder mit Christoph Eschenbach Referenzen sind, an der Seite der hochsensiblen Tasten von Leif Ove Andsnes, der zu den sicherlich weltbesten Pianisten und Begleitern zählt.
„Wohin?“, fragt Matthias Goerne zu Beginn mit einer sehr persönlichen Lesart, in welcher der Fremdheit des wandernden Gesellen, seiner tiefen inneren Unruhe und auch dem Zwiespalt zwischen Zärtlichkeit und Autonomiebedürfnis Geltung verliehen wird. Aber so zart und verhalten wird der Abend nicht bleiben. Bereits nach drei Liedern ist mir bewusst, dass diese Darbietung wahrscheinlich der Schubert-Abend meines Lebens bleiben wird, so innig ist der Gesang, so vielschichtig und fein die Ausarbeitung der Interpretation, so feinfühlig und aufmerksam die Begleitung, kurz, ein Jahrhunderterlebnis.
Gerade hat der Lindenbaum am Brunnen vor dem Tore seine schattenreichen Äste ausgebreitet, da bleibt plötzlich Matthias Goerne das Wort „Geselle“ buchstäblich im Hals stecken. Er unterbricht – unglaublich! – das Konzert mitten in der dritten Strophe, heftig englisch eine Konzertbesucherin anredend, die anscheinend den musikalischen Leckerbissen weitaus weniger zu würdigen weiß als angemessen, weniger jedenfalls als die zahlreichen SMS, die sie von der ersten Reihe aus mutig zu verschicken wagt, was den Meistersänger verständlicherweise um die nötige Konzentration und Ruhe bringt. „She must leave!“, wettert gewaltig der Bariton, und es ist unmissverständlich, dass hier die Nachricht lautet: sie oder ich. Nach kurzem, aber heftigem Wortwechsel hat der Solist sein Ziel erreicht und die Bahn ist frei für die Wiederaufnahme der amourösen Schnitzarbeiten am Laubbaum.
Erstaunlich, wie Goerne scheinbar weitersingt, als sei nie etwas vorgefallen. Seine Gesangstechnik, sein musikalischer Sachverstand, seine Ausarbeitung sind ein Präzisionswerk – das jedoch, wie er in Interviews betont, seinen Gegenpart im Publikum benötigt, eine Energie, die gleichzeitig wertvolle Stimulation und ein unkontrollierbarer Faktor ist. Was sein Begleiter vom Rausschmiss gehalten haben mag, bleibt dahingestellt; im Publikum sind die Meinungen nach dem Konzert jedenfalls geteilt. Unvergesslich bleibt allen der Abend, den einen, weil sich durch den Zwischenfall und die heftige Reaktion etwas zwischen sie und die Musik der Weltklasse geschoben hat. Man wagt wirklich kaum noch zu atmen. Andere Zuhörer betonen, in welchem Maße der Vorfall dem Interpreten innere Ressourcen freigelegt haben muss, sodass hier dem lyrischen Ich eine Emotionspalette zur Verfügung steht, die man so wohl noch nie gehört hat und wahrscheinlich auch nie wieder hören wird.