Gegen Ende 1737 traf Telemann endlich in Paris ein. Etliche Zeit vorher hatte er bereits eine Einladung in das Concert spirituel, dem öffentlichen Konzertsaal erhalten. Zum diesjährigen großen Telemann-Jubiläum setzte die Philharmonie de Paris als heutiger Klangraum von Welt mit dem Oratorium nach Brockes, dem Passions-Schlager der damaligen Zeit, immerhin eine daran erinnernde Ehrerweisung auf das Programm.
1712 veröffentlichte Brockes seine Dichtung der Leidensgeschichte, berüchtigt für ihre Emotionaliät, die durch die ausgefallenen, drastischen Schreckensdarstellungen umso größere Erlösungszuversicht hervorrufen sollte. Diese lautmalerischen Besonderheiten waren prädestiniert für den einfallsreichen und operngeschulten Telemann, dessen erhaltene Version, abgewandelt durch Sätze anderer Brockesianer wie Keiser, Händel, Mattheson und Graupner, beim Ensemble Pygmalion und Raphaël Pichon in ebenso esprithaften Händen war. Mit der Lust für das Drama berührten sie auch das jetzige Osterpublikum.
Die Ansteckung gelang neben dem exquisiten Spiel der Instrumentalisten vor allem durch die bravuröse, wandlungsfreudige Dynamik und Phrasierung, deren Einsatz die Passion so überaus gefühlvoll und lebhaft machte. Schon mit der ersten Sinfonia, der in Ton gesetzten Zusammenfassung des Ganzen, hätte es Pygmalion nicht besser treffen können, musste die im Pianissimo beginnende, langsam-strenge Einleitung mit leidender Oboe Jasu Moisios und der innigen Steigung in den Übergang zum schnellen Erlösungs-Virtuosum jeden tief in das Geschehen hineinziehen. Das spürte man spätestens ganz deutlich im dramatischen Höhepunkt, dem Tod Jesu, als schließlich nach theatralischem Gemenge dem einsamen Ausscheiden des Cellos die absolut fesselnde Totenstille im Saal folgte. Zudem verstand es Pichon, die charakterliche Regung mit den orchestralen Mitteln sofort in den Fasern spürbar zu machen, wenn die Streicher schlugen, knirschten, stachen, melancholierten oder tänzelten, die Blockflöte wärmte und tröstete, die Hörner knarzten, alles aufluden oder festlich adjutierten sowie die griffige Continuo-Sektion die Spannung konsequent durchtrug.
Lediglich beim ersten Judas-Auftritt verschwand diese durchdachte Artikulationspräsenz seltsamerweise etwas. Mir fehlte expressives Feuer und Kompaktheit, um die emotionale Wüterei in Schärfe und Rhythmik perfekt zu untermalen, selbst wenn die Lautstärke mit teuflisch triumphierenden Hörnern Marie-Claude Chappuis und ihre herrliche Textbehandlung überdeckte. Ihr klarer, feiner Mezzo sollte aber gleich darauf erstmals balanciert und damit im gelobten Interpretationsgefüge zu den Sternen greifen, ehe sie in der Kreuzigungs- und Sterbeszenerie als gläubige Seele zu noch größerer Kongruenz mit Wort und Begleitung kam. Wie besungen füllte sie ihre Partien in phrasiert-ansprechender Nachempfindung: einerseits mit bibberndem Erstaunen und Erstarren, andererseits mit detailliert-nuancierter „Wunder“- und „Pracht“-Belegung in geheimnisvoller Finsternis und tröstlich-erhellendem, wunderschönem Ausdruck von Herzlichkeit im Psalmvortrag.
Genauso überzeugen konnten die Soprane in den weiter aufgeteilten Rollen der gläubigen Seele und der Tochter Zion. Während die kindlich-schlank timbrierte Stimme von Robin Johannsen vor allem in Matthesons organischem „Brich, mein Herz, zerfließ in Tränen“ und den intensiv-harmonisch, schmerzlich-reinen Händel-Duetten entzücken konnte, hätte sie in ihrer Auferstehungsarie mehr jubillierende Frohlockung transportieren können, die Nicolas Isabelle so vorbildlich in seine Trompete legte. Joanne Lunn blitzte mit ihrer wahrlich akkuraten Haltung heraus, Ausdruck findend in präzisester Aussprache und einer ausgewogenen Farbigkeit, deren anmutiger und umfassend passender Glanz, ob lieblich, beweglich oder eindringlich, Text und Musik in gleißendes Licht stellte. Sie gab diese auch nicht auf im instrumentalen Lautmalerei-Feuerwerk vom überschäumenden „Was Bärenklauen, Löwentatzen“ mit Horngebrüll und Streicherragen, sondern machte mit ihrer Artikulation alle Einsätze zu einem Spitzenmoment, direkt und einprägsam.