Wahrscheinlich kann man sich kaum einen krasseren Kontrast vorstellen als den zwischen Enjott Schneiders Thema und dem Ort der Uraufführung seines Berlin Punk: Das gediegene Mindener Stadttheater und sein funkelnder Kristallleuchter hörten Kathi Wagner bewusst schnoddrig die Spiked Saxes auf dem Baritonsaxophon einleiten. Der Abend war von Gegensätzen geprägt: Auf eine bemerkenswerte Interpretation zeitgenössischer Musik folgte eine blassere Sicht auf Prokofjews Fünfte Symphonie.
Das auswendig spielende und seine Partitur lebende Saxophonquartett Clair-Obscur zeigte ab dem ersten Satz eine überzeugende Leistung in der Interaktion mit der Nordwestdeutschen Philharmonie unter Yves Abel. Man muss sich Enjott Schneiders tonale und sehr effektvolle Komposition wie ein riesiges Werk für eine mit Streichinstrumenten komplettierte Big Band vorstellen. Rhythmisch stellten sich die Saxophone auf wie die Irokesenschnitte der Berliner Punkszene der 80er. Col legno setzten sich dazu die Streicher in Szene; bald gab Christoph Enzels Tenorsaxophon seine Meinung ab, mit einem zwischen Klezmer und Schrei situiertem Solo, das auf eine urbane Geräuschkulisse von Quietschen und U-Bahn-Tunnel stieß.
Im Moon over Alexanderplatz (... wir lassen dich nicht allein) entfaltete sich wunderschön Jan Schulte-Bunerts Sopransaxophonton in Wellen, unterlegt von haarfeinen Orchesterklängen, die eine mystische Atmosphäre zauberten – man kann in Schneiders Werk durch den Wechsel von schnellen, rhythmischen Sätzen zu lyrischen Einheiten durchaus eine klassische Symphoniestruktur erkennen. Logisch folgte ein Tanz in Punkmanier: Police Rats (... Bullenjagd) ist eine Umkehrung von Bernsteins Einleitung zu West Side Story, allerdings schienen hier wohl eher die Ordnungskräfte das Jagdobjekt darzustellen. Dramatische Trillerpfeifen, eine effektvolle Flöte (mit rollender Zunge) und harte Trommeltöne waren hier die symphonischen Zutaten. Wiegende Achtel-Romantik bot der vierte Satz, Toxic Love (... von Suizid-Susie aus Kreuzberg), mit auf Saiten tanzenden Bögen der Streicher und Soli von Maike Krullmanns bemerkenswertem Altsaxophon.
Abschließend variierte Fun Punk (... Schizo grellbunt) das Thema des ersten Satzes, wobei hier tatsächlich auch grellbunt musikalisch zitiert wurde. „Gotta move on... gotta move it“ und piepende Videospiel- und Synthesizersegmente schossen dem Zuhörer erinnernd durch den Kopf. Das waren die schrill abgewrackten 80er: Schneiders Werk imitiert nicht Punkmusik, sondern zeichnet plastisch Lebensgefühl, Szene, Augenblicke und Individuen einer charakteristischen Epoche Westberlins nach, von Kreuzberg bis Bahnhof Zoo. Die Interpretation von Clair-Obscur und NWD-Philharmonie erzeugten eine enthusiastisch positive Resonanz und entzückte auch den anwesenden Enjott Schneider, der, auf die Bühne geeilt, Solisten, Dirigent und Orchester seine begeisterten Glückwünsche übermittelte. Die Qualität von Clair-Obscur wurde erneut in seiner Zugabe deutlich, Piazzolas Libertango in einem wahrhaft spektakulären Arrangement für Saxophonquartett.