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Es schallt und hallt aus Philadelphia: Tempesta di Mare und die Habsburger Hofkapelle

By , 23 May 2021

Die immer wieder trivial geäußerte Überzeugung, Geschichte müsse nicht trocken daherkommen, veranschaulichte das Tempesta di Mare Ensemble aus Philadelphia mit dem der Wiener Hofmusikkapelle gewidmeten Mai-Konzert seiner Online-Saison, in dem es gleichzeitig Werke eines vor eigentlich exakt 249 Jahren verstorbenen Österreichers erstmals auf amerikanischem Boden aufführte. Johann Georg Reutter der Jüngere ist der Name dieses Notenschöpfers, der als letzter barocker Leiter der Habsburger Kaiserhof-Institution fungierte, die zu dessen Zeit bereits auf eine knapp fünfhundertjährige Historie zurückblicken konnte.

Anno 1296 findet sich eine Urkunde zur Gründung einer Musikgruppe für die Burg zu Wien, die aus Vokalisten, einem Knabenchor und einem Organisten für geistliche Anlässe sowie einem militärischen Trompeten- und Paukenconsort für die weltlichen Repräsentationszwecke bestand. Mit der Zeit vom Mittelalter zur Renaissance mauserte sich die Kapelle zum großen Orchester von Hofmusikern, denen ein Kapellmeister übergeordnet war. Zunächst stellten Belgier, zur Blütezeit des Barock dann Italiener den Großteil der Mitglieder. Unter ihnen waren Francesco Bartolomeo Conti, Antonio Caldara, Lehrer vom jüngeren Reutter und Vizekapellmeister unter Johann Joseph Fux, dem Vorgänger von Reutters Vater, Johann Georg dem Älteren.

Die Tradition der Musik für Trompeten und Pauken hielt sich – wie der aristokratische Glanz und Pomp zu bestimmten Gegebenheiten es eben erforderte – bis weit in die Barockzeit, zu dessen Höhepunkt die Oper zweifellos das Maß des Weltlichen, besonders auch am Wiener Hof, darstellte. So ebenfalls bei Reutter & Co, mit der Folge, dass neben Contis schmissigem Don Chisciotte-Schlager Reutters Intrada zu La speranza assicurata mit ihrem extravaganten, schon neu-galanter verspielten Formstil mit wagemutigen, heikel-gesteigerten Clarinen den individuellen Einstieg ins Programm von Tempesta di Mare lieferte. Eine weitere – nicht näher zuordenbare, von Orchester-Direktor Richard Stone transkribierte, in Wiener Archiven schlummernde – Intrada bildete in chronologischer Entwicklung zudem den nur wortparadoxen, festlichen Auszug aus dem Stream. In dieser offenbarten sich folglich die eklatant klassischen Idiome der 1760/70er Jahre mit neblig-kühl angehauchten Streicherzwischentönen und besonders auch den leitend wie leidend betonten trottigen Zügen Haydns prägender Theatralik. Ebenfalls typisch dissonant-harmonische, unkonventionellere Ohrdehnübungen im Gang der Zeit verdeutlichte dagegen die dazwischen liegende Sinfonia, bei denen die Holzbläser aus Traversflöten, Oboen und einem Fagott lediglich ein bisschen starr und brav agierten.

Wenngleich der überragende Einfluss der Italiener den Geschmack prägte, behielten sich Fux und die Herrschenden als Ausweis künstlerisch-diplomatischer Gewandtheit den französischen Stil in kleinerem Umfang bei. Eine eindrückliche Visitenkarte davon hinterließ der Komponist mit seiner Suite in D, die das Ensemble unter bewährter Führung von Konzertmeister Emlyn Ngai mit feder(kleid)leichtem Bogen durchdrungen von sauberer Artikulation und sowohl charmant-lockerer als auch frisch-atmend fortschreitender Phrasierung in bedächtigerer Dynamik vorlegte. War beispielsweise die Air dann bereits in träumerisch gefälliger Anmut verhaftet, stießen die flinkeren, teils versteckteren Vögellockrufe der Wachtel und des Kuckucks in ihren Echos und Verstärkern zum Ende einen humoresken – und mit Stones schwanenhälsiger Erzlaute – körnigeren Hall natürlich ganz ohne Trompeten und Schlagwerk aus.

Diese kam in seiner Besetzung zu je zwei Clarinen und Tromben bei Caldaras Sinfonia wieder zum Einsatz, die aus zwei Introduzzioneteilen dessen Oper La concordia de' pianeti sowie dem Allegro aus Caio Marzio Coriolano zu ihrer Dreisätzigkeit konstruiert wurde. Darin gewann das Orchester immer mehr Sicherheit und übertragende Überzeugung, weshalb wirklich herrschaftliche Funken sprühten. Die Lust griff – nun bei von Conti und Nicola Matteis gemeinschaftlich produzierten Instrumentalen wieder ohne Blech, dafür aber mit Triangel, Fingerschellen, Kastagnetten, Militärtrommel und Sopranblockflöten – glücklicherweise über auf die zusammengestellte Suite besagten Chisciottes. Diese nährte mit Ausnahme der unsauberen Traversflöte vor allem mit dem Entrée, dem anfangs jaulenden Lamento, gewiss der fruchtig-beschwingten Chaconne und der natürlich dem ganz kurz gehaltenen defacto-Rausschmeißer der Folia spaniola die Flamme des Erfolgsfeuers von damals.


Die Vorstellung wurde vom Stream von Tempesta di Mare rezensiert.

****1
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“es sprühten herrschaftliche Funken”
Reviewed at Unknown venue, Philadelphia on 22 May 2021
von Reutter, Intrada from La Speranza assicurata
Fux, Suite in D Minor, N.4
von Reutter, Sinfonia in A
Caldara, Sinfonia from La Concordia de’pianeti
Caldara, Sinfonia from Caio Marzio Coriolano
Conti, Don Chisciotte in Sierra Morena (orchestral suite)
von Reutter, Intrada in C
Emlyn Ngai, Violin
Tempesta di Mare | Philadelphia Baroque Orchestra
Gwyn Roberts, Director
Richard Stone, Director
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