Wie sehr mich ein Umstand im Zusammenhang mit meiner musikalischen Beschäftigung bei rückblickender Betrachtung doch in zweifelnde Verblüffung versetzen kann, erfuhr ich in der Vorbereitung auf das Vivaldi-Vesper-Konzert von Giulio Prandis Coro e Orchestra Ghislieri. Auf dem Programm stand nämlich neben Vivaldis Magnificat RV611, dem Confitebor RV596, dem Sopranhymnus Sanctorum meritis und der Altmotette Vos invito, barbarae faces das Dixit Dominus RV807. Einer seiner Vertonungen des 110. Psalms, die bis 2005 dadurch seinem venezianischen Kollegen Baldassare Galuppi zugeschrieben worden war, dass man bei dem in Dresden beheimateten Werk durch die Abschrift Iseppo Baldans von einer Originalkopie des Urhebers ausging. Grund dafür war, dass die berüchtigte Hofkapelle 1754 einen Stapel geistlicher Notensätze des von Musikchef Hasse hoch geschätzten Galuppi angefordert hatte, dem Kopisten aber die neuen vorliegenden Stücke ausgingen, so dass er die Fassung des verstorbenen Vivaldis als die Galuppis verkaufte.
Kurioserweise erwarb ich – hatte ich da Motetten Vivaldis in eigenen Konzerten gespielt – zeitnah nach Peter Kopps Vorstellung 2006 die Erstaufführungs-CD, später auch die Leonardo Garcia Alarcóns, dessen aufgezeichnetes Konzert (2010) ich verfolgte. Beide Booklets führte ich mir dabei allerdings nicht wie sonst in Fleisch und Blut übergegangene, erforderliche Gewohnheit zu Gemüte, zu vermeintlich eindeutig klang alles nach Vivaldi. Auch eine intrinsisch veranlasste Eigenrecherche unterblieb deshalb. Die sensationelle Entdeckung der Musikwissenschaftlerin Janice Stockigt, bestätigt von Vivaldi-Experte Michel Talbot, ging also tatsächlich an mir vorbei. Kurz danach fanden übrigens Valerio Losito und Renato Criscuolo in der Basilikabibliothek von Assisi die erwähnte Altmotette auf, die Talbot dann edieren sowie der damals gerade neue Ryom-Verzeichnisherausgeber Federico Maria Sardelli als Vivaldiwerk verifizieren und ersteinspielen sollten.
Umso besser, dass ich durch die jetzige Live-Vornahme Prandis – wie ich zu besagter Zeit übrigens Fußballschiedsrichter, vielleicht lag es bei mir daran, zumindest erklären sich so die zackigen und theatralisch-demonstrativen Dirigiergesten des Italieners aus Pavia – doch noch reichlich verzögert diese missliche Wissenslücke beim Dixit Dominus schließen konnte. Und das in hinreißender Verblüffung vernommener Interpretation, die in eher kommoderen Tempi höchsten Wert legte auf verständliche Distinguiertheit. Dabei bildeten der 16-köpfige Chor, das Orchester und die Solisten in ihrem edlen und weichen Klang eine äußerst geschlossene Einheit in famoser, die dynamischen und affektuösen Stufen des piano auskostender Balance, ohne damit an Textur, Akzenten und Spannung einzubüßen. Vielmehr gelang das glückliche Wandeln auf dem schmalen Grat stilvoller, eleganter Sakralität und Würde, der ansonsten gerne die Gefahr birgt, auf den irrlichternden Weg des Kitsches abzurutschen. Alle Solisten, Carlotta Colombo, Marta Redaelli, Margherita Maria Sala, Valerio Contaldo, Massimo Lombardi und Alessandro Ravasio sowie der Ghislieri-Chor verbanden Grazilität und Exaktheit zu einer aufgeräumten, stimmungsreichen Ehrerbietung aus technischer Klasse und blitzender Anmut.