Da steht ein Gejagter. Verängstigt hält er seinen Kopf zwischen den Händen, als würde er gleich zu schreien beginnen. In der Szene zuvor hat Wozzeck sich vom Hauptmann vorhalten lassen müssen, er sehe immer so verhetzt aus. Dabei ist es der Hauptmann selbst, der Wozzeck mit seinem Zynismus in den Wahnsinn treibt, genau wie der Doktor, der ihn zum Versuchsgegenstand entmenschlicht. Wozzeck steht nach der ersten Szene vor dem schwarzen Zwischenvorhang, schaut entgeistert ins Leere, während das kurze Zwischenspiel aus dem Orchester in seinem Kopf zu einem Orkan anzuschwellen scheint, der ihm schier den Schädel sprengt. Die Musik wird zum Ausdruck seiner Seelenqualen, für die Wozzeck die Worte fehlen.
Wie expressiv Alban Bergs Wozzeck-Musik klingen kann, mit welcher Empathie sie diesem verzweifelten Mann eine innere Stimme gibt, macht Sebastian Weigle schon an dieser Stelle der Oper mit beklemmender Intensität deutlich. Mit phänomenaler Genauigkeit, in deutlichster Klarheit und Transparenz setzt das Frankfurter Opernorchester Bergs Partitur bezwingend in klangliche Dramatik um. Später, wenn Wozzeck gegenüber Marie in einem letzten ganz kurzen Moment zu liebender Zuneigung fähig ist, scheint eine winzige zärtliche Phrase Musik wieder zur inneren Stimme seiner Gefühle zu werden. In eminent psychologischer Feinzeichnung arbeitet Christof Loy in seiner Regie genau diese Synchronizität faszinierend heraus.
Ganz losgelöst von der üblichen Sichtweise des Wozzeck als Drama eines geschundenen, sozial entwurzelten Paupers richtet Christof Loy in dieser Frankfurter Neuinszenierung den Fokus auf Wozzecks psychische Lage, seine geistig-seelische Verwirrtheit, die Angstpsychose und den Verfolgungswahn, die diesen Mann schließlich zum Mord an dem einzigen Menschen treiben, der ihm Halt bieten könnte – seiner Geliebten Marie. Zurecht beruft sich Loy auf den historischen Fall, der auch Grundlage des Büchner'schen Drama ist und der in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausführlicher Diskussionsstoff über die Frage der Schuldfähigkeit eines Mörders war. So verzichtet die Inszenierung auf Attribute von Armut und sozialem Elend. Umso intensiver und beklemmender zeigt sie die Komponenten psychischer Verelendung auf: Erniedrigung, Verachtung, Sprachlosigkeit und schließlich Verrat, wie Wozzeck ihn durch Maries Treuebruch mit dem Tambourmajor erfahren muss.
Die Handlung dieser nur neunzigminütigen Oper stellt Nel in der sachlichen Konstruktion seines Bühnenbildners Herbert Murauer wie eine pathologische Studie dar. Die in Segmente abgeteilte Guckkastenbühne wird durch verschiebbare Wände mit Durchgängen zu größeren oder kleineren Räumen zur Chiffre für die bedrückende Enge, ja Zellenhaftigkeit dieser Welt. Die Räume werden so auch zu Seelenräumen; wir scheinen Wozzecks Situation und Handeln aus seiner Perspektive zu erleben. Auch in den Szenen, in denen er nicht handelt, ist er als Augenzeuge zugegen. Die erste Wirtshausszene scheint er wie einen Alptraum zu erleben: die grotesken Handwerksburschen mit ihren absurden Philosophien über den Sinn des Lebens und der Welt insgesamt, dann eine skurrile Musikkapelle mit ihrer schräg verfremdeten Tanzmusik und in einem Nebenraum die mit dem Tambourmajor lüstern tanzende Marie. Im schummrigen Halbdunkel ist diese Szene von beklemmend kafkaesker Wirkung.