Wie steht es heute um die Welt der klassischen Musik? Wie verändert sie sich? Die jährliche Erhebung von Bachtrack kommt einer Antwort so nahe wie möglich – und dieses Jahr können wir einige ungewöhnliche Ergebnisse vermelden.
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Im Jahr 2023 verzeichnete Bachtrack 31.309 verschiedene Veranstaltungen (etwa 4.000 mehr als im Vorjahr). Darunter befinden sich mehr als 16.000 Konzerte, 9.000 Opernaufführungen und fast 6.000 Tanzveranstaltungen. In diesem Jahr konnten wir auch die Daten der letzten zehn Jahre, also seit 2013, auswerten. Durch die Zusammenstellung einer so großen Stichprobe sind wir in der Lage, statistisch signifikante Schlüsse über die Welt der klassischen Musik und die Veränderungen, die sie durchläuft, zu ziehen.
Zeitgenössische Musik im Aufschwung
Ein bemerkenswertes Ergebnis der letzten zehn Jahre ist die stetige Zunahme der Programmgestaltung mit Musik von lebenden Komponist*innen. Seit 2013 ist der Anteil der zeitgenössischen Musik in unseren Programmen weltweit von etwa 6% auf 14% gestiegen. Dieser Trend spiegelt sich in vielen einzelnen Ländern wider: im Vereinigten Königreich von 6% auf 15% und in den USA von 7,5% auf 20%. In einigen Ländern, wie Japan, Österreich und Frankreich, gibt es vergleichsweise weniger Aufführungen zeitgenössischer Musik, aber auch in diesen Ländern ist ein Anstieg zu beobachten.
Während jedoch bei einigen Musikepochen ein Anstieg zu verzeichnen ist, sind andere rückläufig. In unserer Datenbank für das Vereinigte Königreich sind die Aufführungen von Alter Musik und Barockmusik in diesem Zeitraum von 20% auf 15,5% zurückgegangen. Ein ähnlicher Rückgang, von 13% auf 6%, ist in den USA zu beobachten. In den meisten europäischen Ländern sind die Aufführungen von Alter und Barockmusik dagegen konstant geblieben, wobei die Zahlen in den Niederlanden besonders hoch sind.
Komponistinnen im Aufwind
Der Anstieg der Aufführungen zeitgenössischer Musik geht Hand in Hand mit einem Anstieg der Aufführungen von Musik von Komponistinnen – und insbesondere von lebenden Frauen. Sofia Gubaidulina, Caroline Shaw, Unsuk Chin und Anna Clyne gehören alle zu den 100 meistgespielten Komponist*innen im Jahr 2023. Ebenfalls in den Top 100 vertreten sind Clara Schumann, Fanny Mendelssohn und Lili Boulanger. Im Jahr 2023 sind 22 der 200 meistgespielten Komponist*innen Frauen – im Jahr 2013 waren es nur 2.
In unserer Auflistung sind 36 der 100 meistgespielten lebenden Komponist*innen Frauen, 2013 waren es nur 11 von 100. Auch unter den 20 meistgespielten lebenden Komponist|*innen sind 7 Frauen vertreten – 2013 waren es noch keine unter den Top 20.
Boosey & Hawkes antwortete auf die Frage, warum die Aufführungshäufigkeit ihrer Komponistinnen so stark gestiegen ist: „Sofia Gubaidulina, Unsuk Chin und Anna Clyne sind drei der wichtigsten Komponist*innen, die heute Musik machen, und ihre Werke sind generations-, kultur- und stilübergreifend. Wir freuen uns über die wachsende Akzeptanz der klassischen Musikindustrie für unterschiedliche Stimmen, die zu einer verstärkten Programmgestaltung mit lebendiger Musik lebender Komponist*innen geführt hat.”
Ein gemischtes Bild für Dirigentinnen
Im Gegensatz zu diesem deutlichen Anstieg bei Komponistinnen ist das Bild bei Dirigentinnen eher gemischt. Im Jahr 2023 war Andris Nelsons erneut der meistbeschäftigte Dirigent von Orchesterkonzerten, der 112 Mal in unserer Datenbank aufgeführt wurde. Die meistbeschäftigte Dirigentin, Elim Chan, taucht trotz 53 aufgelisteter Auftritte nicht unter den ersten 20 auf. Unter den 100 meistbeschäftigten Dirigent*innen (mehr als 26 aufgelistete Auftritte) sind 14 Frauen. Im Jahr 2013 befanden sich unter den 102 meistbeschäftigten Dirigent*innen nur 4 Frauen.
Während Dirigentinnen weniger engagiert sind als Männer, ist dies ein Anzeichen dafür, dass sie auch bei Spitzenjobs in der klassischen Musikbranche zu kurz kommen? Von 102 Orchestern in aller Welt, deren Saisonen wir auflisten, konnten wir 95 Chefdirigent*innen ermitteln. Von diesen waren nur 7 Frauen. Es gibt natürlich Hunderte von Orchestern auf der ganzen Welt, von denen viele nicht in diese Stichprobe einbezogen werden können. Eine größere Studie, die Nathalie Krafft im Jahr 2021 für den Wettbewerb und die Akademie La Maestra durchgeführt hat, kam jedoch zu einem ähnlichen Ergebnis: Von 778 ermittelten Orchestern hatten 7,9% eine Frau als Chefdirigentin.
Stoßen Dirigentinnen auf eine Weise an eine Gläserne Decke, wie es Komponistinnen nicht tun? Das ist eine Möglichkeit. Es ist auch so, dass es heute sehr viele erfahrene Dirigentinnen gibt, und zwar in größerer Zahl als in früheren Jahrzehnten. Außerdem sind mehrere Chefdirigentenstellen bei großen Orchestern in der ganzen Welt unbesetzt - darunter Los Angeles Philharmonic, das Chicago Orchestra und Seattle Symphony Orcestra. Wird eines dieser Orchester eine Frau als Chefdirigentin ernennen?
Top-Werke 2023
In Anbetracht seines 150. Jubiläums war 2023 ein großes Jahr für Rachmaninow: Seine Symphonischen Tänze führen die Rangliste der meistaufgeführten Orchesterwerke an. Auch die Klavierkonzerte Nr. 2 und Nr. 3 stehen ganz oben auf der Liste. Abgesehen von Strawinskys Le Sacre du printemps waren dies die einzigen Werke des 20. Jahrhunderts, die in diesem Jahr in den Top 20 zu finden waren (es sei denn, man zählt Ravels Orchestrierung von Bilder einer Ausstellung mit).
Rachmaninows Symphonien wurden zwar häufig aufgeführt, konnten aber Dvořák, Beethoven, Brahms und Tschaikowsky als führende Symphoniker nicht verdrängen. Abgesehen von Rachmaninovs Zweitem und Drittem Klavierkonzert waren die meistaufgeführten Konzertstücke in diesem Jahr allesamt Violinkonzerte von Tschaikowsky, Mendelssohn und Beethoven. Ravels La Valse, das 2022 das meistgespielte Werk war, ist nach wie vor beliebt (es ist sogar das beliebteste Werk des Komponisten), auch wenn es 2023 aus den Top 20 herausfiel.
Bei den Opern gab es nicht annähernd so viele Veränderungen im Repertoire. Die meistgespielten Opern im Jahr 2023 ähneln weitgehend denen von vor einem Jahrzehnt. In der Welt des Tanzes hingegen hat der Nussknacker unangefochten die Oberhand – 2023 auch dank Cassie Kinoshis Version, die das traditionelle Ballett ergänzt. Ballette zu Partituren von Duke Ellington (Night Creature und Reflections in D) und Wynton Marsalis (For Four) wurden 2023 ebenfalls viel aufgeführt. Der bahnbrechende afroamerikanische Choreograph Alvin Ailey steht außerdem auf Platz 5 der am häufigsten aufgeführten Choreograph*innen in unserer Liste für 2023.
Ähnlich wie im Jahr 2022 haben Choreographinnen jedoch einen schweren Stand. Unter den 20 am häufigsten genannten Choreograph*innen befindet sich nur eine Frau (Sharon Eyal). Ob sich diese Situation in Zukunft ändern wird, bleibt abzuwarten.
Hot or not?
Betrachtet man die Entwicklung der letzten zehn Jahre, so stellt man fest, dass die Popularität einiger Komponist*innen steigt, während sie bei anderen sinkt. Die Aufführungshäufigkeit von Gustav Mahler hat stetig zugenommen. 2023 werden seine Werke fast doppelt so häufig aufgeführt wie 2013. Ein weiterer bemerkenswerter Anstieg im gleichen Zeitraum war der von Kurt Weill, dessen Werke 2023 2,6 Mal häufiger aufgeführt wurden als 2013.
Weills Werke sind in vielen Ländern der Welt immer noch urheberrechtlich geschützt, so dass dieser Anstieg in den letzten zehn Jahren eine echte Zunahme der Popularität zeigt, insbesondere in Deutschland. Ed Harsh von der Kurt Weill Foundation erklärte auf die Frage, was der Grund für diese Zunahme der Popularität sein könnte: „Kurt Weill war ein Künstler mit hohen Ansprüchen, der in komplexen und unbeständigen Zeiten lebte. Angesichts der zunehmenden politischen und sozialen Herausforderungen in der heutigen Welt werden die Relevanz und die Kraft von Weills Musik immer deutlicher, wie der jüngste Erfolg von Werken wie Der Silbersee und Fantaisie symphonique gezeigt hat.”
Doch während einige Komponist*innen seit 2013 einen Aufschwung erleben, geht es bei anderen etwas bergab. Sowohl Elgar als auch Händel haben in den letzten zehn Jahren einen allmählichen Popularitätseinbruch erlitten. Und während die Jubiläen einiger Komponisten, wie z. B. das von Ligeti, zu einem messbaren Anstieg der Aufführungszahlen im Jahr 2023 geführt haben, ist bei anderen, wie z. B. William Byrd, keine Veränderung der Häufigkeit festzustellen. Der Rückgang der Zahl der Aufführungen Alter Musik im Vereinigten Königreich im gleichen Zeitraum könnte hier einen Teil des Zusammenhangs darstellen.
Zusammenfassung
In einigen Bereichen der klassischen Musik hat sich in den letzten zehn Jahren ein deutlicher Wandel vollzogen, insbesondere was die Zahl der Aufführungen von Werken lebender Komponist*innen betrifft. Andere Aspekte des Sektors zeigen jedoch eine größere Trägheit. Angesichts des enormen technologischen Wandels in der Branche - physische Medien werden durch Streaming verdrängt, und die Energiekosten für den Betrieb großer Aufführungsräume steigen – halten Publikum und künstlerische Leiter lieber an Bekanntem fest, als Risiken einzugehen? Die Zukunft wird es weisen...