Ein tschechischer Dirigent dirigiert tschechische Musik: Was könnte im Jubiläumsjahr zum 200. Geburtstag Smetanas normaler sein? Doch wenn Jakub Hrůša seine achte Saison als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker beginnt, sind seine Pläne nicht ganz das, was man erwarten könnte. Keine Ouvertüre der Verkauften Braut oder eine feierliche Aufführung von Má vlast (obwohl sie das Werk während ihrer Zusammenarbeit bereits zweimal mit großem Erfolg aufgenommen haben). Nein: auf Tournee in Prag, und später zu Hause in Bamberg, beginnt er mit Smetanas selten gespielter symphonischer Dichtung Wallensteins Lager – Teil einer Erkundung von Smetanas drei so genannten „schwedischen” symphonischen Dichtungen (die anderen beiden sind der Shakespeare'sche Richard III und der norwegisch inspirierte Hakon Jarl). Eine tschechische Nationalikone erscheint plötzlich sehr... international.
Und da dies Hrůša ist – und da dies Bamberg ist – ist genau das der Punkt. „Mein Bild vom Komponisten ist sehr komplex”, sagt er, wenn man ihn nach seinen Plänen fragt.
„Natürlich bin ich voreingenommen, weil ich Tscheche bin, aber es ist nicht so, dass ich die Musik von Smetana mag, weil ich Tscheche bin. Es ist eher andersherum! Weil ich Tscheche bin, hatte ich genügend Gelegenheiten, Smetanas Werk im Allgemeinen kennenzulernen – eigentlich schon seit meiner Jugend – und ich halte ihn für einen unglaublich wichtigen Komponisten seiner Zeit, der unterschätzt wird, weil er zu leicht als rein nationaler Komponist wahrgenommen wird. Aber Smetana ist ein Komponist, der zu Recht als sehr wichtig angesehen werden würde, selbst wenn er nie etwas für sein Land getan hätte. Nehmen Sie sein Erstes Streichquartett oder das Klaviertrio in g-Moll – Werke, die keineswegs überwiegend folkloristisch sind.”
Es ist eine ungewohnte Perspektive, zumindest für einige Zuhörer. Aber Hrůša hat nicht viel Zeit für Vorurteile. „Wenn man sich die progressive Linie der Komposition des 19. Jahrhunderts ansieht, die von Beethoven inspiriert wurde und sich über Berlioz, Schumann, Liszt und Wagner fortsetzte, würde ich behaupten, dass Smetana einer der besten Komponisten dieser Tradition ist. Ich bin sogar der festen Überzeugung, dass Smetana ein erfolgreicherer Vertreter der symphonischen Dichtung ist als Liszt selbst. Er verdient es, in ganz Mitteleuropa gefeiert zu werden, nicht nur in Böhmen.”
Ob man nun Gläubiger oder Skeptiker ist, die Kraft von Hrůšas künstlerischer Überzeugung ist unbestreitbar. Er ist ein Musiker, der wissenschaftliche Aufsätze über Bohuslav Martinů veröffentlicht hat (dessen Dritte und Vierte Symphonie er in der nächsten Saison in Bamberg dirigieren wird), und dessen Diskographie von Hans Rott bis Alissa Firsova reicht. Er ist ein Künstler, der sich intensiv mit der Musik, die er aufführt, und der Kultur, in der er lebt, auseinandersetzt, und im Konzertsaal macht er seine Meinung deutlich. Smetana als natürlicher Erbe von Beethoven? Hrůša macht es vor, indem er diese frühen symphonischen Dichtungen mit – ausgerechnet – Beethovens Fünfter paart. Warum sich also zurückhalten?
„Smetanas frühe symphonische Dichtungen sind nicht als Zyklus wie Má vlast gedacht, aber sie wurden nahe beieinander komponiert”, sagt er. „Ich dachte, wir sollten sie mit Beethoven zusammenbringen, der einen großen Einfluss auf ihn hatte. Smetana hat viele Beethoven-ähnliche Züge: er hat ein wenig von dieser formalen Neigung; er ist monothematisch und muskulös und sehr Dur-Moll-orientiert. Ich empfand es also als ideale Kombination von Werken, die selbst in Tschechien nicht regelmäßig genug gespielt werden. Und dann spielen wir Beethoven 5. Ich finde, es ist eine sehr schöne Kombination!”
Und wenn man die Zusammenhänge der großen mitteleuropäischen Musiktradition erkunden will, wo könnte man das besser tun als in Bamberg, einer kleinen bayerischen Stadt, die zufällig ein Symphonieorchester von Weltrang beherbergt. Es ist ein Orchester mit einem ganz besonderen Erbe. Die Bamberger Symphoniker wurden ursprünglich von deutschsprachigen Tschechen gegründet, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Bamberg niederließen. Das ist nun Geschichte, aber Hrůša glaubt fest an eine musikalische Tradition, die Grenzen überschreitet:
„Die deutschsprachige Welt neigt dazu, die tschechische Musik des 19. Jahrhunderts zu stark aus einer deutschen Perspektive zu betrachten - als ob es sich um einen exotischen, slawischen Zweig der deutschen Musik handelt und nur die Exotik der Musik einen zusätzlichen Wert verleiht. Meine persönliche Überzeugung ist – vor allem heute, wenn ich in Japan oder in den USA oder in London arbeite –, dass die mitteleuropäische Kultur eine Einheit bildet. Für mich fühlt sich die tschechische, slowakische, österreichische, bayerische, sächsische und so weiter wie eine große kulturelle Familie an – im Gegensatz zu den Besonderheiten der italienischen oder britischen Kultur.” Hrůša spricht aus Erfahrung. Er ist derzeit Erster Gastdirigent des Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom und übernimmt im September 2025 das Amt des Musikdirektors der Londoner Royal Opera.
„Ich will damit sagen, dass Orchester ein sehr starkes Gefühl von Abstammung und Tradition haben, aber es ist keine DNA - es ist nicht wie bei Familien. Heute hat das Bamberger Orchester keinen expliziten Bezug zur Tschechischen Republik, obwohl wir über 20 Nationalitäten unter den Spielern haben. Es ist natürlich ein deutsches Orchester und sollte auch als solches gesehen werden. Aber es hat diesen spezifischen Geschmack der Geschichte. Das ist nichts, was ich bewusst kultiviere, aber weil ich so bin, wie ich bin, spielen wir manchmal eine Schubert- oder Bruckner- Symphonie, und jemand in der Presse oder im Publikum sagt: ,Aber dieser Trioteil – der klang doch total böhmisch! Das klang wie Dvořák!’ Und in der Tat, warum nicht? Weil Linz, wo Bruckner lebte – wie weit ist das von Prag entfernt? Zwei Stunden Fahrt. Dasselbe gilt für Wien, das in der Nähe von Brünn liegt, wo Janáček gelebt hat.”
„Die Verbindung ist wirklich wahnsinnig eng”, erklärt Hrůša, „und ich bin froh, wenn es diese traditionelle Verbindung zu Böhmen im Orchester gibt, denn sie klingt gut, und sie ist echt, und sie gibt uns eine ganz natürliche Möglichkeit, dieses Repertoire zu pflegen – ob Smetana oder Mahler”. Oder auch Bruckner: Hrůšas Bamberger Aufnahme der Neunten Symphonie ist im Mai 2024 erschienen. Und in der Stadt selbst hat Hrůša den Vorteil eines einzigartig treuen und begeisterten Publikums und einer bürgerlichen Kultur, in der das Orchester und sein großartiger Konzertsaal aus dem späten 20. Jahrhundert einen Ehrenplatz einnehmen.
„Sie sind ein erstaunliches Publikum. Etwa 10% der Bevölkerung sind Abonnenten, und 95 bis 100% unserer Programme sind ausverkauft. Sie lieben das Standardrepertoire, also haben wir viele deutsche Klassiker, aber die anderen 50% unseres Programms sind wirklich abenteuerlich, und es gibt keine Grenzen, was wir ihnen bieten können. Sie folgen uns regelrecht. Ich bringe Spezialitäten aus meinem Umfeld mit, und wenn ein französischer, britischer oder amerikanischer Dirigent kommt, bringt er oder sie etwas von seiner oder ihrer Herkunft mit.” In der Saison 2024-25 dirigiert Joana Mallwitz John Adams, Benjamin Grosvenor spielt Gershwin, ein Programm mit Carlos Simon und Rimsky- Korsakow mit Andris Nelsons sowie die Feierlichkeiten zum Schostakowitsch-Jubiläum 2025 von John Storgårds und von Hrůša selbst: die monumentale Elfte Symphonie.
„Er ist einer der Komponisten, die mir immer sehr am Herzen lagen”, sagt Hrůša. „Ich habe das Gefühl, dass Schostakowitsch in Bamberg ein bisschen fehlt. Ich finde, seine Musik hat heute etwas ganz Besonderes. Ihre emotionale Kraft – wenn sie ohne falschen Pomp interpretiert wird – kann für uns Westler eine der stärksten Verbindungen zur russischen Kultur sein. Ich dirigiere seine Musik anders als viele russische Dirigenten, wenn ich das sagen darf – vielleicht mit weniger Grandezza. Ich sehe ihn eher als einen radikalen Komponisten mit einem sehr dringlichen, provokativen Charakter; eine etwas zweideutige oder ambivalente Figur. Das ist eigentlich ein schöner Aspekt großer Kunstwerke: Sie sagen genauso viel über uns aus wie über ihren Schöpfer. In Schostakowitschs Musik kann man finden, wer man ist.”
Das, so scheint es, ist zentral für Hrůšas neugierigen, intelligenten und allumfassenden Zugang zur Musik. Und für die Bamberger Symphoniker – ein Ensemble, das durch seine unverwechselbare Geschichte und seinen ganz besonderen Platz in der Welt geprägt, aber nie eingeengt ist. „Sie haben Recht”, sagt Hrůša. „Es ist ungewöhnlich, ein so großes deutsches Symphonieorchester in einer so kleinen Stadt zu haben, aber wir sind wirklich stolz darauf.
„Was soll ich sagen? Bamberg ist sehr menschlich. Für sinnvolle und schöne Arbeit ist es ein gesegneter Ort, weil man hier die Möglichkeit hat, sich zu fokussieren und zu konzentrieren. Alles, was dieses Orchester macht, ist sehr persönlich, sehr durchdacht, und es gedeiht und blüht auf, wenn es Zeit hat, sich in die Musik zu vertiefen. Wir versuchen, langsam zu kochen, wenn Sie verstehen, was ich meine? Wir wollen so weit wie möglich von musikalischem Fast Food entfernt sein.”
Die Bamberger Symphoniker und Jakub Hrůša sind ab 6. September mit Smetana und Beethoven auf Tournee.
Dieser Artikel wurde gesponsert von den Bamberger Symphonikern.
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.