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Critics’ Choice 2023: Wer sind die zehn besten Dirigenten und Orchester der Welt?

Von , 11 September 2023

Welches ist das größte Orchester der Welt? Wer sind die besten Dirigent*innen? Jeder hat seine eigenen Vorstellungen, die auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhen. Aber was passiert, wenn man eine Gruppe der weltweit führenden Kritiker*innen klassischer Musik fragt?

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker
© Monika Rittershaus | Berliner Philharmoniker

Bachtrack hat genau das im Jahr 2015 getan, eine Umfrage, die viel Diskussion ausgelöst hat. Acht Jahre und eine Pandemie später haben wir beschlossen, die Umfrage zu wiederholen, um zu sehen, wie die Dinge stehen. Wir haben 15 Kritiker*innen aus 11 Ländern gebeten, ihre zehn besten Orchester und Dirigent*innen zu benennen. Anders als beim letzten Mal, als sich einige Kritiker*innen, insbesondere in Nordamerika, nicht in der Lage fühlten, an der Umfrage teilzunehmen, weil sie viele der Orchesterkandidaten nicht live erleben konnten, ist es dank der explosionsartigen Zunahme von Streaming-Diensten nun möglich, Aufführungen von Orchestern aus aller Welt per Mausklick zu verfolgen. 

Während die überwiegende Mehrheit der Jury ihre Nominierungen auf einer Skala von 1 bis 10 einstufte, sahen sich einige nicht in der Lage, so weit zu gehen und boten zwei Listen mit zehn Kandidat*innen an, die dann bei der Zusammenstellung der Ergebnisse gleich gewichtet wurden. Die Kritiker*innen nahmen unter der Bedingung teil, dass die Stimmabgabe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgt. Es ist anzumerken, dass The New York Times ihren Kritikern nicht erlaubt, an externen Umfragen wie dieser teilzunehmen.

Was gilt bei der Beurteilung eines Orchesters oder Dirigent*innen als „großartig”? Wir haben die Definition absichtlich vage gehalten, aber einige Mitglieder der Jury nach ihren Kriterien gefragt. 

„Bei meiner Auswahl habe ich versucht, mir vorzustellen, welche Orchester und Dirigent*innen ich hören möchte, ohne im Voraus zu wissen, was sie tun”, schreibt Alex Ross vom New Yorker. „In dieser Hinsicht zählt eine phantasievolle Programmgestaltung genauso viel wie rein musikalische Exzellenz”.

„Jedes Symphonieorchester kann sich ,groß’ nennen. Das schreibt die Gattung vor”, erklärt Dr. Eleonore Büning (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung),„aber richtig gut werden kann es nur, wenn alle aufeinander hören und gemeinsam atmen, denken, fühlen, träumen und handeln. Ein Symphonieorchester muss Schwarmintelligenz entwickeln, wenn es zu innerer Größe finden will.”

„Ein ,großes’ Orchester ist mehr als die Summe technisch hervorragender Musiker*innen”, schreibt Walter Weidringer (Die Presse), „denn es ist bestrebt, die Traditionen seiner eigenen kollektiven Klangpersönlichkeit zu pflegen und aufrechtzuerhalten, verfügt über ein geschmeidiges, homogenes Tutti in jeder Dynamik, die Fähigkeit, sich rasch auf unterschiedliche Akustik einzustellen, hat starke Persönlichkeiten in den Schlüsselpositionen und beweist dies im Idealfall auch in einem breiten Repertoire, das Oper, Konzert und Kammermusik umfasst.”

Christian Merlin (Le Figaro) erklärte, seine Entscheidung beruhe auf "einer komplexen Mischung aus vielen Komponenten: historische Wurzeln und Modernität, kollektive Kraft und individuelle Talente, spezifischer Klang und Anpassungsfähigkeit, all dies verbunden mit einer strengen Konsequenz sowie einer aufgeschlossenen künstlerischen Politik."

Hat sich die Rangfolge der Orchester grundlegend geändert? Kurz gesagt, nein. Das Orchester, das die Rangliste mit großem Abstand anführt, ist nach wie vor dasselbe: die Berliner Philharmoniker

© Bachtrack Ltd

„Es ist ein sowohl technisch als auch musikalisch herausragendes Orchester”, so Weidringer, „wahrscheinlich das 'modernste' und vielseitigste Orchester im deutschsprachigen Raum, sehr schnell und bereit, sich den Ideen verschiedener Dirigent*innen anzupassen.”

Es war auch das erste große Orchester, das einen eigenen Streaming-Dienst betrieb (gegründet 2008), und sein hauseigenes Plattenlabel wird als Luxusmarke vermarktet. Die Digital Concert Hall sorgt dafür, dass die Berliner Philharmoniker weltweit präsent sind, was ihren Chancen bei einer internationalen Kritikerumfrage nur zuträglich sein kann, wenn so viele ihrer Programme online verfügbar sind.

„Ich liebe ein Symphonieorchester, das das dynamisch, rhythmisch, stilistisch an seine Grenzen geht”, schreibt Büning, „ein Orchester, das ein breites Repertoire drauf hat und nach dessen Erweiterung sucht, jenseits der Beethoven-Brahms-Bruckner-Routine; das Klangfarbensensationen erprobt, erfindet,  auskostet, in dem jedes Instrument solistische Qualitäten hat; das sich wiedererkennbar treu bleibt, auch, wenn es sich verändert. Genau das schätze ich an den Berliner Philharmonikern.”

Eva-Maria Tomasi und Stefan Dohr, Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker: „Wir möchten uns im Namen der Berliner Philharmoniker sehr herzlich für diese Auszeichnung bedanken und sie unseren drei Patenorchestern, dem Bundesjugendorchester, dem Kyiv Symphony Orchestra und dem Youth Symphony Orchestra of Ukraine widmen. Ihr ganz unterschiedlicher Einsatz bildet das unverzichtbare Fundament für die klassische Musik im Jetzt und in der Zukunft.“

Berliner Philharmoniker
© Stephan Rabold | Berliner Philharmoniker

Es überrascht nicht, dass die mitteleuropäischen Orchester gut abgeschnitten haben: Die Berliner Philharmoniker waren eines von drei deutschen Orchestern in den Top Ten, zusammen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (3.) und dem Gewandhausorchester Leipzig (9.); das Budapest Festival Orchestra lag mit Platz 8 weit über den Erwartungen; und die Wiener Philharmoniker waren der stärkste Herausforderer der Berliner. 

„Die Wiener Philharmoniker sind nicht nur ein Orchester, das aus der ungeheuren Resonanz auf Beethovens Symphonien in der österreichischen Hauptstadt entstanden ist”, schreibt Pablo Pablo Rodríguez (El País), „sondern es hat sich bis heute weiterentwickelt, ohne seine wesentlichen Charakteristika zu verlieren und ohne Rücksicht auf die Berühmtheit oder den Einfluss seiner Dirigenten (in der Tat hat das Orchester seit 1933 keinen Chefdirigenten mehr).” 

Das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam belegte den 4. Platz in unserer Umfrage, bei der auch drei amerikanische Orchester (Chicago Symphony, The Cleveland Orchestra und Los Angeles Philharmonic) gewählt wurden. Das London Symphony Orchestra war das einzige britische Orchester, das es in die Liste schaffte (Platz 7). Kein Orchester mit historischen Instrumenten schaffte es in die Top Ten, obwohl Les Siècles drei Nominierungen erhielt. 

Sir Simon Rattle
© LSO | Mark Allan

Aber was ist mit den Taktstockschwingern, die vor diesen Orchestern stehen? Die Liste der zehn besten Dirigenten in unserer neuen Umfrage spiegelt den Lauf der Zeit wider – Mariss Jansons starb 2019 – oder veränderte Umstände, wie z. B. eine schlechte Gesundheit, die die Tätigkeit von Daniel Barenboim einschränkt. Als Riccardo Chailly die Umfrage 2015 anführte, war er Musikdirektor des Gewandhauses; jetzt leitet er das Teatro alla Scala und ist ( knapp) aus den Top Ten gefallen (Platz 11). 

Sir Simon Rattle bleibt auf dem Podium und belegt erneut den zweiten Platz, aber sein Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern, Kirill Petrenko, hat sich von Platz 7 im Jahr 2015 an die Spitze der Umfrage für 2023 gesetzt. Der russische Dirigent wurde von zehn Mitgliedern unserer Jury gewählt, wobei der dritte Platz seine schlechteste Platzierung war. Die Zusammenarbeit mit dem bestplatzierten Orchester wird ihm dabei geholfen haben, aber Petrenko hat durchweg ekstatische Kritiken erhalten. 

© Bachtrack Ltd

„Er ist ein Genie!”, schwärmt Merlin. „Bei ihm hat man das Gefühl, zum ersten Mal Stücke zu hören, die man eigentlich durch und durch auswendig kennen sollte.”

„Kirill Petrenkos Interpretationen sind getrieben von einer ausgeprägten Mischung aus historischem Wissen, intellektuellen Fähigkeiten und nicht zuletzt purer Energie”, erklärt Weidringer. „Seine Fähigkeit, eine komplexe und stark instrumentierte Partitur leicht, farbig und transparent klingen zu lassen, ist herausragend.” 

Herbert Blomstedt
© Winslow Townson | Boston Symphony Orchestra

Unsere Top-Ten-Liste enthält einige „alte Löwen” – Riccardo Muti (82) belegte den siebten Platz, während Herbert Blomstedt (96), der von Orchestern und Publikum (und Kritiker*innen) geliebt wird, einen bemerkenswerten dritten Platz belegte, möglicherweise aus sentimentalen Gründen. 

Es mag überraschen, dass ein so prominenter Dirigent wie Yannick Nézet-Séguin (Metropolitan Opera und Philadelphia Orchestra) nur auf Platz 8 landete, aber Sir Antonio Pappano (Royal Opera und Santa Cecilia, und bald Chef des LSO) erreichte einen starken 4.. Klaus Mäkelä (Oslo, Orchestre de Paris, und bald Chef des Concertgebouw) vertritt die Jugend auf Platz 9. Esa-Pekka Salonen, der auf beiden Seiten des Atlantiks respektiert wird, stieg von Platz 8 auf Platz 5 auf. 

Klaus Mäkelä
© Agnieszka Biolik | Verbier Festival

Keine Dirigentin schaffte es in die Top Ten, obwohl sieben von mindestens einem Kritiker  oder einer Kritikerin nominiert wurden. Susanna Mälkki (12.) und Joana Mallwitz (14.) waren am nächsten dran, in die Top Ten zu kommen. Mallwitz, die kürzlich einen Plattenvertrag mit dem Label Deutsche Grammophon unterzeichnet hat, wäre – neben Mälkki und Karina Canellakis – einer unserer Tipps für die Liste, wenn wir unsere Umfrage in einigen Jahren wiederholen würden. Die Welt der klassischen Musik entwickelt sich weiter, aber Veränderungen geschehen nicht über Nacht.


Das Critics' Choice Panel:

Dr. Eleonore Büning (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung et.al, Deutschland), Neil Fisher (The Times, UK), Arthur Kaptainis (Classical Voice, Kanada), Joshua Kosman (San Francisco Chronicle, USA), Fiona Maddocks (The Observer, UK), Serge Martin (Le Soir, Belgien), Alberto Mattioli (La Stampa, Italien), Peter McCallum (Sydney Morning Herald, Australien), Christian Merlin (Le Figaro, Frankreich), Guido van Oorschot (de Volkskrant, Niederlande), Pablo L. Rodríguez (El País, Spanien), Alex Ross (The New Yorker, USA), Mark Swed (LA Times, USA), Markus Thiel (Merkur, Deutschland), Walter Weidringer (Die Presse, Österreich)

“ein Symphonieorchester muss Schwarmintelligenz entwickeln, wenn es zu innerer Größe finden will”