Wie provokant darf Oper sein? Zu Lebzeiten Giuseppe Verdis nahm man es mit den guten Sitten noch ein wenig genauer als heute, und so musste der Komponist seinen Wunsch, die traviata „modern“ auf die Bühne zu bringen, auf Eis legen. Da die reale Vorlage seiner Violetta, Marie Duplessis, erst fünf Jahre zuvor gestorben war, galt sein Stoff als zu zeitgenössisch und kontrovers, um das Opernpublikum direkt damit zu konfrontieren. Wie aktuell die Geschichte auch heute noch ist, beweist nun die sehr moderne Inszenierung von David Hermann am Opernhaus Zürich.
Noch während der Ouvertüre hebt sich der Vorhang, zu sehen ist eine Party in Violettas Haus, auf der sich die wenigen Anwesenden langweilen, die Gastgeberin verzweifelt versucht, Stimmung aufzubringen und die schließlich doch noch eintreffenden Gäste nur des Buffets wegen gekommen sind. Es ist eine Situation, die wohl jeder schon einmal so oder so ähnlich erlebt hat; ebenso meint man, diese schlichten Ledersofas schon in der Wohnung von Bekannten gesehen zu haben. Dass die Kostüme der Figuren auf der Bühne eine frappante Ähnlichkeit zu den Outfits des Publikums aufweisen, verstärkt den Eindruck, dass sich die Handlung mitten im Jetzt abspielt. Da aber heutzutage Tuberkulose-Erkrankungen selten sind, wird diese Violetta von einer anderen Krankheit heimgesucht: Ihr Leiden ist psychischer Natur.
Egal ob Party, Liebe oder Religion, sie taumelt von einem Extrem ins nächste, stets begleitet von einem ausgeprägten Hang zur Selbstzerstörung. Obwohl Sonya Yoncheva erst nach der Generalprobe für Anita Hartig eingesprungen ist, war ihre Darstellung der Borderline-Burnout-Persönlichkeit von bedrückender Intensität. Ihrer Violetta hafteten keine großen, damenhaften Gesten an, sondern eine ständige Getriebenheit gepaart mit Unsicherheit und Nervosität. Zum Ausdruck kam dieser Aspekt besonders deutlich in der Szene mit Germont, als sie zunächst nervös hin und her wippte und schließlich in ihrer Verzweiflung begann, sich selbst zu verletzen.
Mit tränengetränkten Piani und wütenden Ausbrüchen zog Yoncheva vom ersten Ton an in ihren Bann und verlieh der Figur auch stimmlich eine morbide Labilität. Ihre Stimme hat in den letzten Monaten an Fülle, Tiefe und Klangfarben zugelegt, dabei aber nichts an Beweglichkeit eingebüßt. Mit ihrem dunklen, samtenen Timbre, brachte sie perlende Koloraturen im Sempre libera, packende Dramatik im zweiten Akt und pure Verzweiflung bei Addio del passato auf die Bühne. Als effektvoll erwies sich ein Kunstgriff Hermanns im dritten Akt: das Wiedersehen spielt sich einzig in Violettas Phantasie ab, sie stirbt alleine in einem Hospiz, Alfredo und Giorgio Germont tauchen nur noch als Wahnbilder auf. Eindrücklich spielte und sang Sonya Yoncheva die dadurch entstehende „Wahnsinnsszene“, in der Violetta erst Hoffnung zu schöpfen schien, als sie zusammenbrach. Die bulgarische Sopranistin war schlichtweg eine Klasse für sich; umso erfreulicher, dass ihre Bühnenpartner neben ihr keineswegs untergingen.