Island ist derzeit nicht nur wegen des Fußballs in aller Munde. Ein beeindruckender Auftritt in der EM 2016 hat gezeigt, dass die Isländer ihrem Ruf als beherzte Außenseiter absolut gerecht werden, doch ihr musikalischer Hintergrund – und ihr Engagement für neue Musik – ist sogar noch beeindruckender. Seit 2012 präsentiert das Isländische Sinfonieorchester sein Tectonics Festival für zeitgenössische Musik. Für seine erste Saison als Chefdirigent des ISO hat Yan Pascal Tortelier neben klassischen Favoriten zahlreiche neue Werke nordischer Komponisten aufs Programm gesetzt.
Organist-Komponist Páll Ísólfsson zählte im 20. Jahrhundert zu Islands führenden Musiker. Seine Lyrische Suite kommt im Paar mit Carl Nielsens Symphonie Nr. 2 „Die vier Temperamente“ in einem von Osmo Vänksäs Konzerten. Im seinem anderen Konzert dirigiert Vänskä Musik seines Landsmanns Kalevi Aho. Minea ist ein 20-minütiges Werk, das Vänskä 2008 für das Minnesota Orchestra in Auftrag gegeben hat (Minea ist eine abgekürzte Form von Minneapolis). Wie viele andere zeitgenössische finnische Komponisten bezieht sich Ahos musikalische Sprache auf das Erbe von Jean Sibelius, doch Ahos Orchestrierung in diesem Werk lodert richtiggehend. Hier hören Sie Ahos Minea (der Spotify-Link funktioniert nur, wenn Sie auf Spotify eingeloggt sind).
Tortelier dirigiert Aequora der jungen Komponistin und Violinistin María Huld Markan Sigfúsdóttir als Eröffnung eines Programmes von Dvořák und Sibelius, während Haukur Tómassons From Darkness Woven, komponiert für Orchester ohne Blechbläser, im November seine Uraufführung erlebt.
Mehrere Orchesterwerke der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir wurden vom ISO uraufgeführt und sie wurde im letzten Jahr als Kravis Emerging Composer des New York Philharmonic Orchestras ausgewählt. Der Komponistin zufolge bezieht sich Aeriality „auf den Zustand, durch die Luft zu gleiten und nur wenig oder nichts zu haben, um sich festzuhalten – so als flöge man.“ Das großangelegte symphonische Werk eröffnet „Nordic Music Days“, wobei man auch Esa-Pekka Salonens phantastisches Violinkonzert hören kann, gespielt in Reykjavík von Akiko Suwanai.
„Dark Music Days“ konzentriert sich auf die zeitgenössische Szene: Daníel Bjarnason präsentiert mehrere neue Werke, einschließlich Haukur Tómassons Bratschenkonzert Echo Chamber und Atli Heimir Sveinssons Doloroso, das auf einer alten isländischen Begräbnishymne aufbaut. Das Konzert endet mit Polaris, einer grandiosen Tondichtung des britischen Komponisten Thomas Adès, die uns auf eine Klangreise durch den Himmel schickt. Thurídur Jónsdóttirs Flow and Fusion, eine Komposition für Orchester und Elektronik, wurde 2004 bei den „Dark Music Days“ uraufgeführt und kehrt in dieser Spielzeit zurück. Die Komponistin beschreibt, dass sie die Bilder von „Strömen von glühend heißem Magma“ im Sinn hatte, die „in einem einzelnen, anschwellenden Lavastrom zusammenkommen, der abkühlt, zu Stein wird... und Echos.“ Dem folgt eine Interpretation von Magnus Lindbergs Erstem Violinkonzert durch Jack Liebeck, ein Werk, von dem der Boston Globe schrieb, dass es zeige, dass „es möglich ist, Lyrik und virtuoses Schaustück mit erfrischend neuen Klängen und substantiellen musikalischen Ideen zu verbinden“.
Kaija Saariaho, eine der führenden Komponistinnen Finnlands, ist mit zwei Werken in der neuen Spielzeit des ISO vertreten. Ihr Klarinettenkonzert D'Om Le Vrai Sens wurde von sechs mittelalterlichen Wandteppichen Die Dame und das Einhorn inspiriert, die Saariaho im Pariser Musée national du Moyen Age auf der Suche nach Material für ihre Oper L’amour de loin gesehen hat. Jeder Teppich beschreibt symbolisch die fünf Sinne sowie einen geheimnisvollen „sechsten Sinn“, von dem die Komponistin andeutet, es könnte die Liebe selbst sein. Kari Kriikku, für den das Konzert geschrieben wurde, spielt es in Island nach Sibelius Tondichtung Rakastava (Der Liebende). Ein weiteres Mal wird Saariahos Stück wieder zusammen mit Sibelius programmiert, wenn Cellistin Sæunn Þorsteinsdóttir ihr Sept Papillons (Sieben Schmetterlinge) vor Sibelius nationalistischer Zweiter Symphonie spielt.
Der neue Chefdirigent Yan Pascal Tortelier ist der Sohn des großen Cellisten Paul Tortelier. Er begann seine Karriere als Violinist, studierte dann jedoch Dirigieren bei Franco Ferrara an der Accademia Chigiana in Siena und war Co-Dirigent des Orchestre National du Capitole de Toulouse. Seitdem war er von 1992 bis 2003 im Vereinigten Königreich Chefdirigent des BBC Philharmonic Orchestra, wo sein energischer Stil dem Orchester in ausgezeichneten Konzerten vorstand, besonders mit französischem Repertoire. Zu den französischen Werken, die Tortelier für seine erste Spielzeit in Reykjavik ausgewählt hat, zählen Ravels Suiten aus Daphnis et Chloé, eine schillernde Ballettmusik, die den Hörer kopfüber in die schwere Mittelmeerhitze stürzt. Der Anfang der Zweiten Suite bietet eine der schönsten Beschreibungen eines Sonnenaufgangs in der Musik. Ravel tritt in Torteliers Spielzeiteröffnung zusammen mit Rachmaninow auf.
In seiner ersten Saison hat Tortelier auch Bizets Schauspielmusik zu Alphonse Daudets L'Arlésienne aufs Programm gesetzt, das provenzalische Melodien aufnimmt. Bizets Carmen hingegen kann man in einem herrlichen vorletzten Konzert hören, zusammen mit Pablo de Sarasates Violinfantasie über die Oper, die neben Eis und Magma auch ein bisschen spanisches Feuer in die aufregende neue Spielzeit des ISO bringt.
Dieser Artikel entstand im Auftrag des Isländischen Sinfonieorchesters.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.