1938 schrieb Theodor Adorno seinen einflussreichen und viel zitierten Satz „[w]enn Sibelius gut ist, sollen die historisch anerkannten Maßstäbe von Bach bis Schönberg neu gesetzt werden.“ Nun, da ich am vergangenen Abend Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker Sibelius' drei letzte Symphonien im Barbican habe spielen hören, hoffe ich, dass Adorno sich im Grabe umdreht.
Kehrt man Adornos eigentliche Absicht um, enthüllt dieser Satz jedoch eine grundlegende Wahrheit: Ich kenne keinen Komponisten, dessen Musik auch nur entfernt so klingt wie diese Symphonien. Die Klangfarben, die harmonische Fortschreitung, die Variationen im Tempo sind markant und fesselnd: anstatt die Entwicklung von Bach bis Schönberg zu zeigen, ist das Musik, die in ihre ganz eigene Richtung geht. Die Rolle der Streicher fiel mir besonders auf, denn oft steuerten sie mit vielen verschiedenen Bogentechniken eine dichte Hintergrundtextur bei, während die Melodiefragmente den Bläsern zugeschrieben sind.
Die emotionalen Effekte können enorm sein. Gegen Ende des ersten Satzes der Fünften Symphonie sammeln sich gigantische Höhepunkte wie das Brechen riesiger Wellen; man ist überwältigt vom Klang der Streicher, der über die feste Basis von Blech und Pauken spült. Doch all diese Kraft scheint aus dem Nichts zu kommen – nur ein oder zwei Minuten zuvor war die Musik vergleichsweise ruhig, und all diese Wucht hat sich wie heimlich an einen herangeschlichen.
Rattle und die Berliner Philharmoniker konnten aus diesen Momenten der Kraft und dem jeweiligen großen Aufbau, der ihnen vorausgeht, das beste herausholen mit ihrem berühmten, üppigen Streicherklang, kraftvollem, dunklem Blech, klaren Holzbläsern, bei denen sich die Piccolo besonders strahlend gegen die dunklen Farben des übrigen Orchesters absetzte. Die Mitte des ersten Satzes erstrahlte durch ein denkwürdig schönes Fagott-Solo, den letzten Satz charakterisierten einige herrliche Phrasen des Englischhorn. Dieser letzte Satz der Fünften besitzt auch eine von Sibelius' schönsten Melodien, den sogenannten „Schwanenruf“. Man konnte die rhythmische Variation nur bewundern, als sie sich sacht vom Hauptschlag des 2/4-Taktes davon wiegte und einen leicht synkopierten Effekt hervorbrachte, auf den jede Jazzband stolz wäre.