Das Cleveland Orchester ist dieser Tage auf Konzerttournee in Europa: 12 Konzerte in 17 Tagen mit einer kleinen Auswahl unterschiedlicher Programme. Bruckners Neunte Symphonie spielt das Orchester unter der Leitung ihres Chefdirigenten Franz Welser-Möst dabei insgesamt vier Mal; zweimal mit Bergs Lyrischer Suite vor der Pause, einmal zusammen mit Wolfgang Rihms Verwandlung. Nur in Amsterdam stand Bruckners Schwanengesang einsam auf dem Programmzettel und das war, obwohl ich Rihm und Berg gleichermaßen liebe, eine Wohltat.

Ein Abend mit der Neunten Bruckners ohne Ablenkung und gleichfalls nur die ersten drei fertig komponierten Sätze seiner letzten Symphonie. Bis zu seinem Tode hatte der über Siebzigjährige noch am fehlenden Finale komponiert, es gelang ihm aber nicht mehr, seine Arbeit zu vollenden. In den Tagen nach seinem Tod scheint ein großer Teil des kompositorischen Materials von „Souvenirjägern” aus seinem Haus gestohlen worden sein: nicht nur Skizzenblätter sondern sogar Stimm- und Notenblätter. Durch das unregelmäßige Auftauchen von diesen Skizzenblättern ist nach und nach der Eindruck entstanden, dass Bruckner die abschließende Coda des Finales bereits in Skizzenform geschaffen hatte. Das hat zu verschiedenen Vollendungsversuchen geführt und auch Bruckner selbst hatte sein Te deum als alternativen letzten Satz im Falle eines Nichtvollendens vorgeschlagen.
Jede neue Version stellt eine weitere Etappe im detektivischen Forschungspuzzle dar, das endgültige Finale im Sinne Bruckners wird es jedoch nie geben. Nichts von alledem fand Gnade beim Cleveland Orchester, Welser-Möst beließ es bei einer verlängerten, stille-gemahnenden Schlussgeste am Ende des Adagio. Langsam, feierlich, so als wollte er sagen, „Seht her, wir halten uns an die Partitur und dies waren nun einmal Bruckners letzte Worte.”
Eine ähnlich puristische Einstellung war auch in der Stunde Musik davor zu hören. Die Blechbläser mit neun Hörnern zeigten sich in all ihrer Klangpracht, obwohl dies im akustisch feinsinnig hellhörigen Saal des Concertgebouw für empfindsame Ohren oft bis an die Grenzen des Zumutbaren geht. Die Streicher waren mit 18 ersten Geigen voluminös ausgestattet, die Bratschen konnten dem trotz relativer Unterbesetzung (11 statt 14) hervorragend parieren. Auch die neun Kontrabässe waren so vorteilhaft über die rechten Podiumshälfte verteilt, dass man sie bisweilen auch von links zu hören glaubte.
Das zweite Thema im ersten Satz, Feierlich, misterioso, gelang den Musikern aus Cleveland verführerisch und streichelsacht. Darüber schwebten die Melodien der hervorragenden Oboe und Flöte wie mit Engelszungen gesungen. Gleich hier, wie auch im weiteren Verlauf der Symphonie zeigte Welser-Möst die beeindruckende Qualität seiner kontinuierlich sich aufbauenden Spannungsbögen.
Der zweite Satz, Scherzo. Bewegt, lebhaft, gehört harmonisch zum Modernsten in Bruckners Œuvre. Unvergleichbare Fantasieakrobatik ist es, wenn sich die Streicherpizzicati unter Holzbläserliegetönen wiederholt geheimnisvoll emporranken, bevor urplötzlich das Schicksalsmotiv gnadenlos herausgehämmert wird. Der Übergang vom sublimen Trio. Schnell zurück zum Scherzo geriet in seiner natürlichen Einfachheit und Raffinesse zum schönsten Augenblick an diesem Abend.
Im letzten Satz bezauberte der unendlich langsame Modulationsaufbau im nicht enden wollenden Crescendo, einer Himmelsleiter gleich und unterstrich die Gottesehrfurcht dieses zu Lebzeiten so wenig geschätzten Tondichters.