Wie lebendig Musik des 18. Jahrhunderts in historisch informierter Aufführungspraxis sich anhören kann, das demonstrierte der Pianist Andreas Staier, der zu den Experten dieser Spielart gehört, eindrucksvoll im Pierre Boulez Saal. Um seine große, wissende Kunst zeigen zu können, brachte er sogar, wie er es stets tut, seinen eigenen Hammerflügel mit, genau gesagt die Kopie eines Instruments von 1827, die 1996 hergestellt wurde. Fünf Meisterwerke der Musik der Wiener Klassik spielte er an diesem Abend. Eines tiefsinniger als das andere.
Staier liebt diesen Klang. Kein Instrument hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre so stark verändert wie das Klavier und Staier weiß, dass die Komponisten ihre Werke auf die Instrumente ihrer Zeit hin komponiert haben. Nicht nur der Anschlag, sondern auch der Gebrauch des Pedals ist ganz anders vorzunehmen als auf einem Konzertflügel des 19. Jahrhunderts, auf dem die bedeutend dickeren Saiten den Klang viel länger zu halten erlauben als auf dem Hammerflügel.
Dass Staier den Begriff „Compositionswissenschaft“, von der Haydn seinerzeit selbstverständlich sprach, ernst nimmt, merkt man in jedem Takt seiner Aufführung. So studierte er gründlich die unterschiedlichen Arten der Ornamentierung des 18. Jahrhundert. Seine Darbietung der oft gehörten, aber so überzeugend gespielten Fantasie c-Moll, KV475 wurde keine bloße Vorstudie für Beethovens c-Moll-Pathos. Er donnerte das Stück nicht herunter, sondern erreichte den Ausgleich zwischen Improvisation und Komposition, den Mozart wohl im Sinne hatte. Staier vermag die musikalischen Idiome sprachanalog zu begreifen. Stets hat man den Eindruck, dass Staier die allemal zu dieser Zeit noch geläufige Rhetorik auch Mozarts Feder führte.
Von dieser Kunst war auch das Adagio e cantabile der Haydnschen Sonate Es-Dur, Hob XVI/49 geprägt. Verzierungen wurden sorgfältig vorgenommen. Dass derartige Selbstverständlichkeiten in der Aufführung irgendwann im 19. Jahrhundert verloren gegangen sind, damit konnten die Komponisten des 18. Jahrhunderts nicht rechnen. Staier hat sich dieses Wissen zurückgeholt und angeeignet.
Vor der Pause spielte er schließlich Haydns Andante con variazioni. Diese Komposition aus dem Jahre 1793 ist keine Variationenfolge über ein Thema, sondern eine, in der zwei Themen und ihre Veränderungen miteinander abwechseln: ein barock-verziertes graziöses Thema in f-Moll und ein im galanten Stil komponiertes, fast schalkhaftes in F-Dur. Es bannte die Hörer wie Staier Haydns Absichten genau umsetzend, das Moll-Thema das Dur-Thema besiegen lässt. Wenn in den letzten Takten dann die Tonart f-Moll doch nach F-Dur umschlägt, ist vom zweiten Thema nichts mehr übrig geblieben, denn die Tastengewalt des ersten hat es schlicht zerfetzt.
Nach der Pause wandte sich Staier Beethoven zu. Zunächst spielte er die Sechs Variationen F-Dur über ein eigenes Thema, Op.34, die der Komponist dem Verleger als „ganz neue Manier" eines Genres angekündigt hatte, das ein wenig in Verruf geraten war, zur Serienproduktion zu verkommen. Das von ihm selbst erfundene Thema entwickelte er vom heiteren Tanz über eine Jagdszene bis zum Trauermarsch. Staier folgte Beethoven und ließ die Melodie immer durchhören, an der Beethoven festgehalten hat, auch wenn sie manchmal wie unter einem Schleier verborgen gehalten erscheint.
Mit Beethovens Sonate d-Moll, Op.31/2 beendete Staier seinen so lehrreichen wie inspirierenden Abend. Die Sonate ist experimentell und nimmt Rezitativisches in die Sprache der Instrumentalmusik auf. Die mehrdimensionale Form übersetzte Staier in ein gestisches Spiel. Er nahm sich die Freiheit, bestimmte Abschnitte von anderen im Tempo abzusetzen, auch wenn dies so nicht notiert ist.
Staier sagte einmal, dass ein Stück dann am schönsten klingt, „wenn das Tempo stimmt“. Allein an der Aufführung der d-Moll-Sonate war dies ganz deutlich zu spüren. Der letzte Satz wird oft als Etüde verkannt und darum im Tastenrausch über die feinen Phrasierungen hinweggegangen. Die nötigen motorischen Fähigkeiten, das Stück viel schneller zu spielen, hätte Staier. Er tut es selbstverständlich nicht. Gerade an diesem Schlusssatz war sein Gebrauch des Pedals zu bewundern, der Beethovens Vorschriften exakt folgte. Hätte er sie auf den Konzertflügel Übertragen, wäre ein großes Durcheinander im Klangbild entstanden. Und eben darum spielt er auch Beethoven stets auf dem Hammerflügel.
Für den herzlichen Beifall bedankte sich Staier mit einer Zugabe und spielte den zweiten Satz aus Mozarts Sonate C-Dur, KV330.