Es geht doch nichts über Livekonzerte! Selbst wenn man lange unterwegs ist zum Konzertsaal und sich dort angekommen noch in einer Warteschlange gedulden muss: einmal im Saal vergisst man diese Unannehmlichkeiten mit einer gewissen Vorfreude. Wenn überdies während eines solchen Konzertes auch noch das Orchester nebst Dirigentin über sich hinauswachsen, dann weiß man es sicher: es geht nichts über... !
Drei vollständig unterschiedliche Stücke standen auf dem Programm des Radio Filharmonisch Orkest unter der Leitung seiner Chefdirigentin Karina Canellakis mit der Solistin Barbara Hannigan. Und es kam mir vor als hätte ich auch drei verschiedene Orchester gehört.
Das Vorspiel zu Wagners Parsifal begann zaghaft und fast fragmentarisch. Canellakis dirigierte jeden ihrer Achtelschläge akribisch aus, die freischwebende Musik vermisste dadurch linearen Zusammenhang und trotz oder vielleicht gerade wegen dieses genauen Musizierens wollte wenig Atmosphäre aufkommen. Die Blechbläser bestachen zwar mit erdig-sauberem Klang, aber erst als die Streicher voll-satt einsetzten, war die schüchterne Spannung der Eingangstakte vergessen. Auch die Holzbläser fügten sich harmonisch und klangvoll dazu; aber insgesamt schien dieser Konzertauftakt skizzenhaft unfertig.
Der Komponist Hans Abrahamsen ist einer der führenden Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musikszene in Dänemark. 2013 schrieb er den Orchesterliederzyklus Let me tell you für die Sopranistin Barbara Hannigan, die dieses Stück seither 38 Mal gesungen hat. Der Zyklus besteht aus Texten aus dem gleichnamigen Roman des Kritikers und Schriftstellers Paul Griffiths, der ein Porträt von Shakespeares Ophelia aus deren Vokabular von 483 Wörtern in Hamlet konstruiert hatte. Abrahamsens Monodrama wurde vom 2019 vom Guardian als das „best classical music work of the 21st century” ausgerufen.
Wie der Text strahlt auch die Musik eine schattenhafte Einfachheit aus: Sie beginnt im Bereich von b-Moll, das bald von leiterfremden Noten unterlaufen wird. Der Orchesterklang wird von scharfen Piccoloflöten und bedrohlich grollenden Posaunen umspannt. Xylophon und Harfe begleiten den ersten Teil mit einem unermüdlich wiederholten Oktavsprung. Hannigan dehnte in den acht Liedern immer wieder Silben über wiederholten Noten aus, als würde sie singend stottern. Während ihre Stimme ätherisch schwebte oder sich mit intensivem Gefühlsausdruck mühelos zu allerhöchsten Tönen hochschwang, begleitete sie das RFO mit schwebenden Akkorden, die entfernt an Mahler erinnerten. Abrahamsen verfremdet die orchestrale Idylle jedoch dadurch, dass er den Musikern gleichzeitig sowohl Standard-Temperierung als auch natürliche Harmonik vorschreibt. Durch die so entstehende „gebrochene Tonalität”, wie es in der Partitur heißt, fühlt man sich zwischen zwei Welten hin und hergerissen. „What is music if not time“, heißt es dazu im Text.